16.11.25 · Volkstrauertag
Pfarrerin i.R. Ruth Misselwitz
Liebe Schwestern und Brüder,
ist denn die Menschheit überhaupt noch zu retten?
Ist Krieg und Gewalt nicht dem menschlichen Streben und Denken zu tiefst eingegeben in seine Gene über Generation zu Generation?
Der Mensch hat einen Webfehler, das Böse, das Destruktive gehört zu seiner menschlichen Natur, so hat ihn nun mal Gott geschaffen, da kann man nichts machen.
Davon erzählen ja auch die Geschichten aus der Bibel von Anfang an.
Da hilft nur: Augen zu und durch.
So – und noch viel mehr – hören wir es um uns herum.
Die Kapitulation vor der Logik von Krieg und Gewalt ist der Beginn von Krieg und Gewalt – da hat der Krieg schon seinen ersten Sieg errungen.
Die Bibel ist voll von kriegerischen Geschichten und gewalttätigen Machenschaften – sie gibt die Realität wieder, in der sich das Volk Israel befindet. Die Bibel hält aber auch immer wieder dagegen –
sie erzählt von Gottesmännern und -frauen, die die Könige der Gewalt und Bosheit anklagen und bei Rechtsbruch und Ungehorsam die Strafe Gottes androhen. Sie erzählt von Träumen und Visionen einer gerechten, einer friedlichen Welt, in der die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden und das Kriegshandwerk in Vergessenheit gerät, weil es keiner mehr lernt. Sie erzählt von einem Gott, der Frieden für alle Völker bringen und die Menschheit vereinen will.
Und wie das gehen soll, das hat uns Jesus vorgelebt, das können wir im Neuen Testament lesen –
in der Bergpredigt, die die Überwindung von Gewalt und Feindschaft erklärt, die Buße- d.h. Umkehr fordert und Vergebung schenkt, und dadurch Versöhnung zwischen Gegnern und Feinden ermöglicht.
„Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: „Die Eltern haben saure Trauben gegessen aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr, dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel…..Denn nur das Leben, das sich verfehlt, soll zugrunde gehen. Die nachfolgende Generation aber wird nicht für die Schuld der Vorfahren verantwortlich gemacht, die Vorfahren werden nicht für die Schuld der nachfolgenden Generation verantwortlich gemacht ! Eine Person, die gerecht handelt, erfährt ihre Gerechtigkeit, einer Person, die ungerecht handelt, widerfährt ihre Ungerechtigkeit.“ Hesekiel 18,3+20
So schreibt der Prophet Hesekiel nach der Katastrophe im babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v.Ch.
Jerusalem liegt in Schutt und Asche, der Tempel ist zerstört und das Volk Israel im Exil.
Und mitten in diese Depression hinein spricht Hesekiel von der Freiheit der Entscheidung eines jeden einzelnen Menschen.
Die Kinder werden frei gesprochen von der Schuld der Eltern und die Eltern werden freigesprochen von der Schuld der Kinder. Keine Sippenhaft, keine Befangenheit in generationsübergreifende Verhaltens- oder Kulturvorgaben, keine Möglichkeit der Zuweisung von Schuld auf die vorherige oder nachfolgende Generation.
Jeder und jede ist selbst verantwortlich für sein Tun und Lassen.
Vor Gott gilt das gelebte Leben – von seiner Geburt an bis zum Tod.
Und jedes Leben wird gesehen – Erfolge und Misserfolge, Bemühen und Scheitern.
Auf das gerechte Handeln kommt es an: Eine Person, die gerecht handelt, erfährt ihre Gerechtigkeit, einer Person, die ungerecht handelt, widerfährt ihre Ungerechtigkeit.“ so sagt es Hesekiel
Der Maßstab für uns Christen ist Jesus.
Zum Ende des Kirchenjahres werden wir durch die Texte und Lieder auf unser Ende und das der Welt hingewiesen. Wir hörten vorhin die Gerichtsszene, in der Jesus die Menschen voneinander scheidet (Matth. 25,31-40), auf die eine Seite kommen diejenigen, die die Hungrigen speisen, die Fremden beherbergen, die Kranken besuchen und die Gefangenen trösten. Auf die andere aber kommen diejenigen, die das unterlassen haben, aus welchen Gründen auch immer. Am Ende werden auch wir gefragt, was wir getan haben, das Elend der Millionen Hungernden auf dieser Erde zu lindern,
wen wir von den unzähligen Flüchtlingen beherbergt haben, ob wir die ausgegrenzten und weggesperrten Menschen getröstet haben. Und die Ausrede, das wir doch das alles gar nicht wussten, oder so viele andere Sachzwänge uns daran hinderten, gilt dann nicht mehr.
Auch wenn die Logik dieser Welt auf Macht und Gewalt setzt und scheinbar damit Erfolg hat –
vor Gott gilt eine andere Logik – die der Menschlichkeit und der Nächstenliebe. Und diese gilt uneingeschränkt für jeden Menschen gleich welcher Herkunft, Kultur, Religion oder Nation.
Gott sei uns gnädig in seinem Urteil über uns – und Christus stehe uns bei, wenn wir Rechenschaft ablegen müssen.
Die frohe Botschaft aber ist, dass bei Buße – bei der Abkehr unseres ungerechten Tun und Handelns –
ein Neuanfang möglich ist. Verfeindete Lager können wieder versöhnt werden, über tiefe Gräben können wieder Brücken gebaut werden.
„Russen und Ukrainer können wieder Wodka miteinander trinken, wie sie es früher auch schon getan haben und Israelis und Palästinenser essen Döner miteinander“ so der Liedermacher Eckart Wenzel in seinem letzten Konzert in unserer Kirche.
Ja, das will uns Gott schenken gegen alle Logik dieser Welt,
gegen alle Befangenheit und Voreingenommenheit,
gegen alle Schicksalsergebenheit und Depression.
Frieden auf dieser Welt ist möglich und ein Zusammenleben der Völker in Gerechtigkeit und ohne Gewalt auch und jede und jeder ist frei und selbstverantwortlich für sein Handeln vor Gott und vor den Menschen, wo auch immer er ist – im Bundestag, in der Bundessynode, beim Militär, in der Gemeinde oder in der Familie. Vor Gott zählt nicht der sichtbare Erfolg, sondern das gerechte Tun, auch wenn man dabei Nachteile, Hohn und Spott erntet.
Nichts ist umsonst, alle unsere Bemühungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind aufgehoben im großen Weltgedächtnis. Gott vermag aus unseren kleinen ohnmächtigen Schritten großes bewirken. Das haben wir vor 35 Jahren bei der friedlichen Revolution erlebt, das erleben heute immer noch unzählige Menschen auf dieser Welt.
Amen
