Robert Seethaler · ›Das Feld‹

23.11.2025 · Ewigkeitssonntag
Pfarrer Michael Hufen

Was bleibt von einem Leben? Ein Chronist sitzt am Rande des Feldes – eines Friedhofs – und versucht das Leben der Verstorbenen nach deren Erinnerungen als Leben in Paulstadt zu komponieren.

DIE STIMMEN 7-13 (in Auszügen)

Auf dem „Feld“, dem Friedhof der fiktiven Gemeinde Paulstadt, beginnen die Toten zu sprechen. In 29 Miniaturerzählungen werden ihre prägenden Erlebnisse, Stimmungen, Befindlichkeiten und Erinnerungen zu einem Kaleidoskop menschlicher Existenz verdichtet, das sich locker an der Chronik der Gemeinde orientiert. Die fiktiven Lebensberichte reichen von dem einen Wort „Idioten“ (130) der Sophie Breyer bis zu der zwölfseitigen Erzählung der Martha Avenieu (109-121). So entsteht das vielstimmige Bild einer kleinen Stadt abseits der Metropolen und der großen Welt.
Dieses Bild besteht aus kleinen menschlichen Irrtümern, Banalitäten, Ahnungen und Desastern: Der wahnsinnige Pfarrer Hoberg, der seine Kirche anzündet und in den Flammen umkommt, die Geschichte des spielsüchtigen Lennie Martin und seiner Frau Louise, einer Beziehung, die ebenso desaströs endet wie die von Martha und Robert Avenieu. Ein korrupter Bürgermeister erzählt von seinen betrügerischen Machenschaften, und das nicht weniger abgeklärt und selbstgefällig wie die Lebedame Heide Friedland von ihren 67 Männern. Eine Frau bilanziert ihr Leben kurz und bündig: „Ich wurde krank / und starb / als Heldin / meiner Tragödie / mit dem Titel: / ALLES VERGEBENS“ (29).
Die Erinnerungen der Toten sind dabei traurig und skurril, ja grotesk und ziemlich bitter.

Ja, die Geschichten sind fiktiv, der ganze Rahmen und die Idee des Buches ebenso: Die Erinnerungen der Toten an ihr Leben.
Eben nicht Erinnerung an die Toten. An unsere Gefühle, Bilder und Geschichten die gerade heute an diesem eisigen Novembermorgen in der Kirche und an den Gräbern der Menschen, an die wir uns erinnern, in uns aufsteigen, die wir miteinander teilen und die für uns zur Erinnerungs- und Trauerarbeit dazugehören.

Was erinnern die Verstorbenen? Was halten sie für erzählenswert und welchen Teil ihres Lebens und welchen Teil ihrer Einschätzungen des Erlebten wollen sie teilen?

Annelie Lorbeer 203-204

Und welche Erinnerungen wollen sie dem Zuhörer auf der Bank am Rande des Feldes mitteilen, welche Weltsicht – um das etwas hochtrabender oder grundsätzlicher zu nennen.

Noch einmal Annelie Lorbeer 211-212

Und Hannes Dixon 214

Liebe Gemeinde

Ich muss gestehen, dass ich anfangs von der besonderen Erzählperspektive des Buches begeistert war. Am Rande des Friedhofs sitzen und die Erinnerungen der Verstorbenen hören. Eine gewisse Neugier ist da. Wie wirkt sich die Perspektivverschiebung aus. Wird neu und sogar anders gewogen und eingeordnet. Ja, rufen die Verstorbenen den Lebenden etwas zu?
Im Hinterkopf hatte ich da auch eine andere Geschichte aus Österreich. Die von den zwei Hirten, die sich zeitlebens verbredet hatten, dass der erste, der stirbt, dem zurückgebliebenen einen Hinweis gibt: wie es denn sei, nach dem Tod. Den gibt dann tatsächlich nach seinem Tod auch der eine und der lautet: es ist nicht so, wie du es erwartet hast und auch nicht so, wie ich es erwartet habe. Sie sind hier sehr streng mit den Regeln!

Aber die Geschichte passt ja auch nicht zum Thema „Erinnerung“ – nur zum heutigen Toten- und Ewigkeitssonntag.
Dennoch: „Das Feld“ zu lesen lohnt sich, um das Leben aus der Sicht der Toten anzuschauen; „wie es sich anfühlt, auf der anderen Seite zu stehen. Abberufen, Eingegangen, Aufgenommen. Verwandelt.“ (S. 10) In diesen Worten blitzt etwas auf von dem, was wir glauben, zu glauben wagen – auch wenn im Buch jeder Gedanke über das DANACH unausgesprochen bleibt.
Annelie Lorbeer weigert sich, selbst über den Moment des Todes zu sprechen. Sie sagt es wäre das Letzte und darüber spricht man nicht. Es ist kein Geheimnis, aber das Sterben ist so individuell wie das Leben. Annelie Lorbeer sagt, sie wäre aus dem Leben „gefallen“, wie sie als Baby „hineingefallen“ ist.
Und das ist es, was mir dieses Buch dann doch schwer macht: ich empfinde mein Leben nicht nur als „hineingefallen“, als stete Folge von Ereignissen, die für mich alle ziemlich bitter klingen.

Liebe Gemeinde
Wir fallen nicht nur hinein und dann wieder heraus! Und ob es Robert Seethaler nun recht ist oder nicht, der Tod ist für mich und uns, die wir hier versammelt sind nicht das Letzte. Er ist das Vorletzte. Es sei ein „Fallen“, sagt Annelie Lorbeer über Anfang und Ende des Lebens – ich möchte den Rahmen anders setzen: aus Liebe und unter Schmerzen geboren, mit der Liebe und auch mit Schmerzen gelebt und allzuoft unter Schmerzen auch gestorben, in die Liebe hinein, die Liebe Gottes, an die wir geglaubt und an der wir gezweifelt haben, der wir unsere Verstorbenen anbefehlen, wie es altmodisch gesagt wird und die wir für uns erhoffen und glaubend schauen mögen.
Gott kommt bei Robert Seethaler eigentlich nicht vor, und wenn doch, dann
nur, weil es ihn nicht gibt oder eben in der Schlagzeile von Hannes Dixon – die ihm aber irgendwie peinlich ist. Selbst der Pfarrer Hoberg glaubt das endlich erkannt zu haben und zündet in verzweifeltem Hohngelächter seine Kirche an.

Die Verstorbenen auf dem Feld, sind Hineingefallene, in Leben voller Herausforderungen und vergeblichen Mühen, Glück ist selten, keine Hoffnung und so ist „Das Feld“ sicher ein Buch, das den Menschen unserer Zeit auch einen Spiegel vorhält.

Aber: Wir sind unter einem leeren Himmel nicht allein!
Wir sind nicht nur Mensch in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, Herausforderungen, Freuden und Ängsten. Wir sind nicht nur Mensch im sogenannten Anthropozän, der alles selber verantworten, schaffen, lösen oder retten kann, soll und muss.

Ja, oft ist die Versuchung groß. Die Versuchung, so zu leben, als würde uns nichts fehlen, wenn uns Gott fehlt. Die Versuchung, die Enttäuschung über Gottes Uneindeutigkeit und Spurlosigkeit nicht mehr spüren zu wollen. Die Versuchung, endlich auch spirituell erwachsen zu werden, die Kinderschuhe des Glaubens abzustreifen und sicherheitshalber und vernünftigerweise nichts mehr von Gott zu erwarten. Und ebenso groß ist vielleicht auch eine andere Versuchung. Die Versuchung, unser Herz an einleuchtendere, zeitgemäßere und vitalere Götter zu hängen. An uns selbst. An das Leben. An die Angst. Die Angst um das Leben. Und die Angst vor dem Leben.

Aber was machen wir denn nun, wenn sich uns die große und ernste Frage des Lebens stellt? Die Frage des Toten- und Ewigkeitssonntags: Woran glauben wir? Was antworten wir auf die Frage – gestellt in finsteren Zeiten, angesichts von Leid und Tod? Wie sehen denn unsere Zwiegespräche am Grab aus? Bleiben wir in der Erinnerung ganz bei uns und denen, die da einen Meter unter uns zur Ruhe gebettet sind?

Oder anders gefragt:
Was sagen wir dem Kind, dass abends vor dem Einschlafen sagt, dass es Angst hat, dass es den Schmerz oder die Trauer nicht mehr aushält, dass das Ungeheuer unter seinem Bett nur darauf wartet, dass das Licht ausgeschaltet wird?
Da helfen keine Ausflüchte oder keine weitschweifigen Erklärungen. Da wird eine Antwort gesucht, die das Kind einschlafen lässt.
Was sagen wir den Kindern der Welt, wenn sie uns fragen, was ihr unruhiges Herz in dieser unruhigen Zeit ruhiger schlagen und sie selig schlafen lässt? Was haben wir an Hoffnung mitzuteilen, die durch die Wüstenwanderungen trägt, in den finsteren Tälern und an den Gräbern?
Und was sagen wir uns selbst?
Hier in Alt Pankow, sprechen wir oft ein Abendgebet „Unser Abendgebet steige auf zu dir Herr und es senke sich auf uns herab dein Erbarmen“ – aber vielleicht muss unsere Antwort anders sein, mehr als eine Bitte, sondern Zusage, voller Gewißheit, allen Erfahrungen zum Trotz, kindlich naiv:
„Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: ‚Dies Kind soll unverletzet sein.“
Ja es ist unglaublich: „Jesu meine Freude“ – aber vielleicht liegt gerade darin das Tröstliche.
Die Mächte dieser Welt werden mich und dich nicht endgültig verschlingen. Weder in dieser Welt, an die wir uns erinnern und in der wir herausgefordert sind und auch nicht in der zukünftigen, auf die wir hoffen.
Wir können nicht über die Schwelle ins gelobte Land, in Gottes Reich schauen. Wir wissen nicht, welche Weg wir noch gehen und welche Wege unsere Welt einschlagen wird. Und vielleicht ist unser Fazit nicht weniger bitter, als die Erinnerungen der Menschen auf dem „Feld“.
Erinnern wir uns doch an die Zusage, die schon der Prophet Jesaja vor 2500 Jahren aufgeschrieben hat: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“.
Wenn wir dieses Angenommensein zulassen, gewinnen wir vielleicht eine barmherzigere Perspektive auf uns und die anderen.
Und doch können wir schon glaubend wissen, wie die Geschichte enden wird.
Sie wird dort enden, wo nur der Glaube hinführen kann. Der Glaube, der drei Dinge weiß: Man kann nicht an den Menschen glauben. Und man kann vielleicht auch nicht an Gott glauben. Aber wir sind trotzdem nicht verloren. Weil Christus uns finden wird.
Amen