Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil, 2011

9.11.2025 · Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Pastor i. R. Dr. Thies Gundlach

Eine Predigtreihe dient immer dazu, etwas mehr in die Tiefe zu gehen, eine Dimension des Glaubens von verschiedenen Seiten aus anzusehen und zu erschließen. Und angesichts des heutigen 9. Novembers – der ja irgendwie ein Schicksalstag in der Geschichte Deutschlands ist – erscheint das Thema „Erinnern“ zentral. Denn vermutlich verbinden wir mindestens zwei Erinnerungen mit dem 9. November: Zuerst den 9. November 1938, die Reichspogromnacht, die brutale und gewalttätige Judenverfolgung, die damit das Ende der bürgerlichen Entrechtung der Juden und den Beginn der unfassbaren Massenvernichtung kennzeichnet. Und natürlich erinnern wir den 9. November 1989, den Abschluss der ebenso erfolgreichen wie friedlichen Revolution in Deutschland, mit ihrem unvergesslichen Günter Schabowski, der glaubte, die neuen Ausreisebestimmungen gälten „sofort, unverzüglich“.

Aber der 9. November hat noch viel mehr zu bieten: 1923 begann an diesem Tag der sog. Hitler-Ludendorff-Putsch, der elendig vor der Feldherrnhalle in München endete, weil die Demokratie sich damals zu wehren wusste. Oder auch der 9. November 1918, die Abdankung von Reichskanzler Max von Baden und die Ausrufung der 1.demokratischen Republik in Deutschland durch Philipp Scheidemann, zwei Stunden bevor Karl Liebknecht die 1. sozialistische Republik ausrufen wollte. Oder – noch weiter zurück: der 9. November 1848, am dem der Abgeordnete der Paulskirche Robert Blum erschossen wurde, womit das Ende der deutschen Märzrevolution definitiv erreicht war.

Liebe Gemeinde, viele Ereignisse, doch welches ist heute zu erinnern; welches ist wirksamer gewesen, welche bedeutender? Muss es ein Ranking am 9.11. geben? Mir fällt dies schwer, denn Erinnern ist mehr als Information, Erinnern ist eine aktive Tätigkeit, eine Festlegung des Geistes, eine Perspektive des Herzens. Und wir können in unseren Tagen fast täglich medial erfahren, wie Erinnerungen gemacht, verstellt, gedehnt, geleugnet, verschoben, geläutert und geklärt werden. Wer die Erinnerung beherrscht, beherrscht auch die Gegenwart und die Zukunft. Deswegen ist die Weisheit des Rabbis Baal-Shem-Tow kaum zu übertreffen: „Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung!“

Wir möchten diesen Fragen in den folgenden drei Sonntagen auf den Grund gehen. Und heute die Frage vertiefen, was passiert, wenn wir nicht dieses oder jenes nicht mehr erinnern, sondern wenn wir gar nichts mehr erinnern, wenn unser Erinnern insgesamt in Vergessenheit gerät, weil die Gegenwart alle Aufmerksamkeit verschluckt? Was geschieht mit uns und unserer Gesellschaft, wenn wir „ohne-Sicht-zurück“ leben, also rücksichtslos? Der Blick auf einen demenzkranken Vater kann uns helfen, diese Fragen zu bedenken.

Lesungen: Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil, 2011

Arno Geiger schrieb 2011 ein eindrückliches Buch über seinen demenzkranken Vater: liebevoll, nüchtern, respektvoll, wahrhaftig, oft humorvoll und lustig, und immer versöhnlich und gütig. Ein Bestseller damals und ein gewaltiges Stück Literatur bis heute. Gleich zu Beginn seines Buches schreibt er über die wachsende Angst des Vaters: (S.9 – 12):

Wenn ich zu Hause bin, was nicht allzu oft vorkommt, da wir die Last der Betreuung auf mehrere Schultern verteilen können, wecke ich den Vater gegen neun. Er liegt ganz verdattert unter seiner Decke, ist aber ausreichend daran gewöhnt, dass Menschen, die er nicht erkennt, in seinem Schlafzimmer treten, sodass er sich nicht beklagt. „Willst du nicht aufstehen?“, frage ich ihn freundlich. …. Ich reiche ihm seine Socken, er betrachtet die Socken ein Weilchen mit hochgezogenen Augenbraunen und sagt dann: „Wo ist der dritte?“ Ich helfe ihm beim Anziehen, damit das Prozedere nicht ewig dauert, er lässt es bereitwollig über sich ergehen. Anschließend schiebe ich ihn hinunter in die Küche, wo er sein Frühstück bekommt. Nach dem Frühstück fordere ich ihn auf, sich rasieren zu gehen. Er sagt augenzwinkernd: „Ich wäre besser zu Hause geblieben. Dich komme ich nicht so schnell wieder besuchen!“ …

Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesellschaft, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer alles ganz vernünftig ist, so doch irgendwie brillant. Eine Katze streift durch den Garten. Der Vater sagt: „Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber.“ Und einmal, als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, antwortet er: „Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen.“ Und dann ansatzlos solche Sätze, so unwahrscheinlich und schwebend, wie sie einem manchmal in Träumen kommen: „Ein Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.“ Witz und Weisheit des August Geiger.
Schade nur, dass die Sprache langsam aus ihm heraussickert, dass auch die Sätze, bei denen einem vor Staunen die Luft wegbleibt, immer seltener werden. Was da alles verloren geht, das berührt mich. Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus. Noch ist das Gefühl, dass dies mein Vater sei, der Mann, der mitgeholfen hat, mich großzuziehen,
intakt. Aber die Momente, in denen ich den Vater aus früheren Tagen nicht wiedererkenne, werden häufiger, vor allem abends. Die Abende sind es, die einen Vorgeschmack auf das liefern, was bald schon der Morgen zu bieten haben wird. Denn wenn es dunkel wird, kommt die Angst. Da irrt der Vater rat- und rastlos umher wie ein alter König in seinem Exil. Dann ist alles, was er sieht, beängstigend, alles schwankend, instabil, davon bedroht, sich im nächsten Moment aufzulösen. Und nichts fühlt sich an wie zu Hause.“

Neben der Angst ist die Heimatlosigkeit das zweite, beständig wachsende Grundgefühl eines Dementen; eine Szene erzählt Arno Geiger so: ( S.53 f).

Eines Tages wollte sich meine Schwester sein Bitten und Drängen nicht länger anhören. Alle fünf Minuten sagte er, dass er zu Hause erwartet werde, das war nicht zum Aushalten. Unserem damaligen Empfinden nach überstiegen seine endlosen Wiederholungen jedes erträgliche Maß. Helga ging mit ihm hinaus auf die Straße und verkündete: „Das ist dein Haus!“ „Nein, das ist nicht mein Haus“, erwiderte er. „Dann sagt mir, wo du wohnst“. Er nannte die korrekte Straße mit Hausnummer. Triumphierend zeigte Helga auf das Hausnummernschild neben der Eingangstür und fragte: „Und, was steht hier?“ Er las ihr die zuvor genannte Adresse vor. Helga fragte: „Was schließen wir daraus?“ „Das jemand das Schild gestohlen und hier angeschraubt hat“, erwiderte mein Vater trocken – was eine etwas phantastisch anmutende Deutung war, die aber keineswegs jegliche Schlüssigkeit vermissen ließ, „Warum sollte jemand unser Hausnummernschild klauen und an sein Haus schrauben?“, fragte Helga empört. „Das weiß ich auch nicht. Die Leute sind halt so!“ Das stellt er mit Bedauern fest, gleichzeitig zeigte er nicht den geringsten Anflug von Skepsis angesichts der Unwahrscheinlichkeit seiner Argumentation. …

Oft saß er allein im Wohnzimmer und seufzte. Mich erschreckte jedesmal, wie verwundbar er wirkte, wie verlassen. Er hatte sich verändert, sein bedrückender Gesichtsausdruck sprach nicht mehr von der Verzweiflung darüber, vergesslich zu sein, sondern von der tiefen Heimatlosigkeit eines Menschen, dem die ganze Welt fremd geworden war.“

Und zuletzt ist es neben Angst und Heimatlosigkeit die geistige Isolation, die mit der Demenz einzieht. Arno Geiger schreibt dazu Folgendes (S. 113 – 116):

Einmal hatte er sein Brot vor sich auf dem Teller und bedauerte, nicht zu wissen, was er damit tun sollte. Er fragte mich um Rat, ich sagte: „Du musst nur abbeißen.“ Mit dieser Anweisung konnte er nichts anfangen. Betrübt antwortete er: „Tja, wenn ich nur wüßte, wie das geht. Ich bin ein armer Schlucker!“ Dass er ein armer Schlucker sei, sagte er manchmal alle paar Stunden, aber keineswegs immer betont traurig, keinesfalls protestierend, sondern meistens auf eine freundliche Art, als müsse er eine wichtige Feststellung machen. „Ich bin einer, der nichts mehr zu melden hat, da ist nichts mehr zu machen.“ … „Ich begreife das alle nicht“, sagte der Vater immer wieder, ein Kommentar zur Undurchschaubarkeit der Mechanismen, in die er sich gezogen fühlte. Und kategorisch der Nachsatz: „Ich bin nichts mehr“. …
Der tägliche Umgang mit ihm glich jetzt immer öfter einem Leben in Fiktion. Wir richteten uns in all den Erinnerungslücken, Wahrvorstellungen und Hilfskonstruktionen ein, mit denen sein Verstand sich gegen das Unverständliche und die Halluzinationen wappnete. Der einzig verbliebende Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie Vater sie wahrnahm. Wir sagten so oft wie möglich Dinge, die seine Sicht bestätigten und ihn glücklich machten. Wir lernten, dass die Scheinheiligkeit der Wahrheit manchmal das Allerschlimmste ist. Sie brachte die Sache nicht weiter und diente allen schlecht. Einem Demenzkranken eine nach herkömmlichen Regeln sachlich korrekte Antwort zu geben, ohne Rücksicht darauf, wo er sich befindet, heißt versuchen, ihm eine Welt aufzuzwingen, die nicht die Seine ist. So schlugen wir einen Weg ein, der von der nüchternen Wirklichkeit wegführte und über Umwege zur Wirklichkeit zurückkehrt. Wenn der Vater nach Hause wollte, sagte ich, mal sehen, was ich für dich tun kann, ich glaube, ich kann dir helfen. Und wenn er sich nach seiner Mutter erkundigte, tat ich, als glaubte ich ebenfalls, dass sie noch lebte, und versicherte ihm, sie wisse über alles Bescheid und passe auf ihn auf. Das freute ihn. Er strahlte und nickte.“

Predigt

Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn JC. Amen

Liebe Gemeinde, Arno Geiger hält die Demenz für „die Krankheit des Jahrhunderts“; die kleinen, mitunter lustigen Geschichten um den Vater August Geiger sind Spiegel und Symbol einer vergesslichen Gegenwart, die nicht nur dies oder das vergisst, sondern ganz und gar Gegenwart ist. Leben wir in einer Welt, die vor lauter Aktualismus nicht mehr zurückblicken kann? Sind all die Gesichter, die sich in U-Bahnen über Kurznachrichten und Reels, über Influenzer-Szenen und TikTok-Bildchen beugen, verloren für alles Erinnern? Alzheimer ist eine Krankheit, auf die der Vater mit Angst, Heimatlosigkeit und geistiger Isolation reagiert, so Arno Geiger. Gibt es nicht gute Gründe, dies auch für eine Beschreibung unserer Gegenwart zu halten? Setzt sich mancher radikaler Populismus, manche Katastrophenbe-wirtschaftung, manche Skandalisierungsverliebheit nicht auch zusammen aus Angst, Einsamkeit und Isolation? Unbedingte Gegenwart, absolutes Jetzt, hundertprozentiges hier, gleich und sofort dominiert das Gestern und das Morgen, weil wir in den Medien der Unterhaltung, der Entertain-Nachrichten, der banalen Katzenvideos ertrinken?

Ist die alltägliche Zerstreuung innerhalb der Grenzen unserer vergesslichen Vernunft die Krankheit unseres Jahrhunderts? Stecken wir unsere Köpfe in den digitalen Sand?

I.

Eine Fülle von Fragen, zugleich habe ich den beklemmenden Eindruck, dass unsere etablierten, gesellschaftlich akzeptierten Formate des Erinnerns von Vergangenem oftmals lediglich eine andere Form des Vergessens sein können. Gerade wenn wir so tun, als würden wir uns gewichtiger Ereignisse erinnern, gerade dann erschweren wir echtes Erinnern:

Nehmen wir z.B. den so wichtigen 27. Januar, dem Gedenktag der Holocaustopfer: staatstragend wird im Bundestag der Opfer gedacht, händeringend wird ein immer älter gewordener Zeuge*in der Grausamkeit zum Vortrag eingeladen und dunkle Musik gespielt. Aber im weiteren Jahrverlauf wachsen Antisemitismus und Judenhaß ungehemmt und gehindert weiter – wie jüngst wieder gezeigt in Paris beim Konzert des jüdischen Dirigenten Lahav Shani. Vergleichbares gilt auch für den Frauentag am 8.März in Berlin oder den 1. Mai der Gewerkschaften oder auch den 3. Oktober der Bundesländern, alles wichtige Daten, aber die Ritualisierung verhindert echtes Erinnern. So wie Vater August Geiger in seinen Erinnerungen nur rituell bestätigt werden muss, dass die „Mutter da ist und auf ihn aufpasse“, denn dann kann der Vater ungestört in seiner dementen Welt bleiben. Es ist, als würden die an sich so wichtigen Rituale des Erinnerns das Erinnern einhegen und kanalisieren und so echtes Erinnern vermeiden.
Oder nehmen Sie ein anderes, aktuelles Beispiel aus Sachsen-Anhalt: Jüngst hat die AFD die Staatsregierung aufgefordert, statt der Bauhauskampagne „moderndenken“ eine Kampagne „deutschdenken“ umzusetzen – ein neues Denken für Sachsen-Anhalt, wie es heißt. Die Kampagne soll sich laut AFD folgenden Themen widmen (ich zitiere): a) Die Merseburger Zaubersprüche – die Anfänge unserer Sprache; b) Otto in Magdeburg – das Zentrum des Reiches; c) Eike von Repgow und der Sachsenspiegel – die Entstehung des deutschen Rechts; d) Martin Luther – die Renaissance des deutschen Christentums; e) Friedrich Nietzsche – die Geburt einer deutschen Philosophie; f) Goethe-Theater in Bad Lauchstädt – Weimarer Klassik in Sachsen-Anhalt; g) Die Altmark – Bismarck und Preußentum in Sachsen-Anhalt.

Mal abgesehen davon, dass diese Zusammenstellung von Geschichts-Ereignisse völlig willkürlich wirkt, – dass trotz allem Kirchenkampf im 3. Reiches wieder lapidar von einem „deutschen Christentums“ geredet wird, macht mich sprachlos. Und es zeigt, dass es im Kern gar nicht um eine echte Erinnerung geht, sondern eine nach hinten verlängerte Gegenwart, eine Funktionalisierung und Moralisierung von zufälligen Geschichtsereignissen, die ausschließlich der eigenen Ideologie zupass kommt. Ob wir das alle immer so machen? Die Erinnerung an Vergangenes hat nichts mit echtem Erinnern zu tun, sondern mit der Benutzung der Geschichte für Gegenwartszwecke.

Oder – um ein drittes Beispiel von verhinderter Erinnerung neben der Ritualisierung und der Funktionalisierung zu nennen: Jüngst ist der berühmte Theologe Dietrich Bonhoeffer in den USA als Kronzeuge für den gewaltbereiten Kampf gegen einen vermeintlichen inneren Feind herbeizitiert worden. Es gab zu Recht erheblichen Widerspruch, aber das Grundsätzliche daran ist: das Erinnern dient hier allein zu moralischen Wertungen, zu Urteilen über das Hier und Jetzt. Es werden vermeintliche Zeugen*innen der Geschichte aufgerufen, sie müssen ohne Eigenstimme ihren Unterstützungsdienst als Bestätigung irgendeiner Gegenwartsüberzeugung tun. Geschichte wird nicht wirklich erinnert, sondern moralisiert und für eigene Interessen genutzt.

II.

Natürlich, liebe Gemeinde, weiß auch ich nicht zu sagen, was gutes, faires, glaubwürdiges, dem Eigenrecht der Geschichte entsprechendes Erinnern ist. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass jene „Krankheit des Jahrhunderts“, diese Absolutheit der Gegenwart, dieser dementale Verlust des Erinnerns auch unserem christlichen Glauben ganz erheblich zusetzt. Denn auch wir in der Kirche vergessen all zu leicht die Traditionen, wir wenden uns einer atemlosen Gegenwart zu und versuchen, unsere christlichen Grundeinsichten so mundgerecht und verstehbar darzureichen, dass wir keine Hürden, keine Schwellen, keine Hindernisse aufbauen. Unter dem ständigen Erwartungsdruck, relevant sein zu müssen, versuchen wir, möglichst zugänglich, möglichst verständlich, möglichst niederschwellig vom Glauben zu reden. Und richtig daran ist natürlich, dass wir als Christen einen missionarischen Auftrag haben, dass wir Menschen in unsere Glaubenswelt locken sollen, ihnen den Glauben an Gott als Befreiung und Trost nahebringen sollen.

Aber es soll eben der Glaube an den dreieinigen Gott sein, der nahegebracht werden soll, nicht nur ein Glaube an einen irgendwie immer „lieber Gott“. Der dreieiniger Gott ist der Befreier, er ist in Jesus Christus zu erkennen und es ist sein Hl. Geist, der uns an ihn erinnert. Wir sollen daher nicht zuerst Mitglieder für unsere Kirche gewinnen (so schön sie sind), auch nicht die perfekte Aufarbeitung sexualisierter Gewalt liefern (so nötig sie ist), auch nicht die Stärkung der allgemeinen Moral, die Festigung unserer Demokratie oder die optimale PV-Anlage auf dem Kirchendach sind unsere ersten Aufgaben (so schön und nötig alles auch ist), sondern die Erinnerung an Gott, an sein Tun und Lassen, an seine Güte und Barmherzigkeit. Wenn in unserem Glauben die durchaus auch schwer verständlichen Traditionen um das Linsengericht der schnellen Verstehbarkeit und des nützlichen Relevanznachweises vergessen werden, dann geht es uns wie Vater August Geiger: wir haben Angst um uns, sind geistlich heimatlos geworden und leben isoliert in unserer kirchlichen Welt. Und ich gestehe, dass manche Erscheinung meiner Kirche diesen Eindruck bestätigen.

III.

Mich bekümmert diese Situation unserer Kirche mitunter sehr! Da sind einerseits die alten, inhaltlichen Schwergewichte unserer Tradition, die in unserer oft so diesseitig orientierten Zeiten nicht wirklich leicht zu erinnern und zu entfalten sind. Und da ist eine Ahnung davon, dass gerade diese inhaltlichen Schwergewichte den Reichtum, die Tiefe und den Segen unseres Glaubens ausmachen. Die Dreieinigkeit Gottes, das stellvertretende Leiden Jesu, die Ur- oder Erbsünde, die Auferstehung der Toten, das ewige Leben – das alles ist in meinen Augen voller Geheimnis, voller Verheißung, voller Tiefe. Aber andererseits zugleich doch schwer zugänglich und nur mühevoll weiterzusagen als Licht und Trost Gottes. Wir drohen verloren zu gehen zwischen der Absolutheit der Gegenwart und der Abgründigkeit des Vergangenen.
Denn mal ehrlich: für die nächste und übernächste Generation ist der 30-jährige Krieg genauso vergangen wie der Holocaust, ist die Krise des 1. Weltkrieges ebenso weit weg wie Luthers Reformation! Wie weit entfernt wirken da erst die Bibel oder gar die dogmatischen Festlegungen der ersten Jahrhunderte? „Halt im Gedächtnis Jesus Christ“, heißt die Aufforderung des Liedes, aber gerade dies erscheint vielen so mühsam, dass wir als Erinnerungsgemeinschaft in unserer digitalen Gegenwart wirklich nicht sehr gute Karten haben.

Umso mehr gilt positiv: Wir sind auf jene angewiesen, die sich der Dominanz des Vergessens und der Demenz der Zerstreuung nicht ergeben. Wir können nur darauf hoffen, dass wieder andere Zeiten und Phasen kommen, Zeiten, die eine geistige Medizin gegen das Vergessen, eine Art spirituelle Alzheimertherapie entwickelt hat, sodass das Erinnern wieder zu Ehren kommt und die Absolutheit der Zerstreuung verabschiedet wird. Bis dahin sollen wir treu und verlässlich an die Verheißungen der Traditionen erinnern, und die Hoffnung weitertragen, dass all das, was die Traditionen behaupten, wahr werden mögen, und dass wir Gottvertrauenden nicht – wie es so schön altmodisch in den Psalmen heißt – „zuschanden“ werden. Den fernen Erinnerungen der Tradition will ich mehr zutrauen als den Flimmerkästchen unserer digitalen Welt, die mir zwar gefällige Bildchen vor Augen führen, aber meine inneren Augen nicht ansprechen. Ganz im Gegensatz zu Arno Geiger, der vom Ende seines Vaters so erzählt (S.187):

Der Vater nahm einen Schluck vom Kaffee, stellte die Tasse neben die Untertasse, schaute die beiden an und fragte: „Sind das Verwandte?“ „Ja, die gehören zusammen“, gab ich zur Antwort. „Ich hab*s mir gedacht – wegen der Farben“, sagte er. …. Im Altersheim ist nicht mehr viel zu erwarten – kleine Annehmlichkeiten – lachende Gesichter – herumstreichende Katzen – ein gelungener Scherz. Mir gefällt es, dass die Menschen, die hier wohnen, aus der Leistungsgesellschaft befreit sind. Ein Mangel an Möglichkeiten hat manchmal etwas befreiendes. Ich stelle es mir vor wie das Warten an einer kleinen Bahnstation in Sibirien, kilometerweit abseits der nächsten Siedlung, man sitzt und knackt Sonnenblumenkerne. Irgendwann kommt bestimmt ein Zug, irgendwann wird etwas passieren. Bestimmt.