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Predigt · Sonntag Septuagesimä · 5. Februar 2023 · Pfarrer Michael Hufen

Posted on Feb 11, 2023 in Predigten

Liebe Gemeinde,

ich bin immer wieder am Überlegen, wieviel Politik eine Predigt verträgt – wie aktuell sie sein kann.

Deshalb am Beginn oder vor der heutigen Predigt aus aktuellem Anlass eine Art persönliche Erklärung:

Vor 80 Jahren hat die deutsche 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus in Stalingrad kapituliert. Eine der verlustreichsten Schlachten des 2. Weltkriegs endete mit der völligen Zerschlagung der deutschen Truppen und der ihrer Verbündeten an der Wolga. Diese Schlacht gilt als der entscheidende Wendepunkt des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion, eines Krieges, der vom ersten Moment an als Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und ihre Völker geplant und durchgeführt wurde. Deutschland hat mit seinem Angriff unvorstellbares Leid, unendliche Zerstörung in die Sowjetunion gebracht und der Front folgten die Einsatzgruppen von SD und SS, die, unterstützt von ukrainischen und baltischen Nationalisten, Millionen Zivilisten ermordeten und tausende Städte und Dörfer zerstörten. Nach dem Krieg war für die meisten Deutschen klar, dass die Forderung „Nie wieder Krieg“ in guter Nachbarschaft zu allen Völkern Europas münden muss. Dieses Versprechen wurde durch Politiker wie Willy Brandt und Egon Bahr zur Grundlage deutscher Politik.

Ich bin entsetzt, dass diese Politik der Entspannung heute als falsch, gar als schwerer Fehler angesehen wird. Die Lieferung von deutschen Panzern und deren zu erwartender Einsatz an der neuen Ostfront, macht mich fassungslos. Die gleichzeitig immer weitereskalierende Kriegspropaganda bei völligem Verzicht auf Versuche, den Krieg mit friedlichen Mitteln zu beenden, rauben mir manchmal den Schlaf. Und es scheint kein Ende in Sicht. Den Panzern sollen bald Kampfflugzeuge folgen. Die Kriegstreiber trommeln schon auf allen Kanälen. Und was kommt dann: deutsche Soldaten mit dem Balkenkreuz an Panzer und Uniform kämpfen wieder auf den Schlachtfeldern ihrer Urgroßväter, weil jetzt Russland so zerstört werden muss, dass es sich für Jahrzehnte nicht mehr erholt, wie es die EU-Ratspräsidentin verkündete? Sind wir im Krieg mit Russland? Ist Stalingrad zu lange her, die Erinnerungen an deutsches Unrecht inzwischen gänzlich unbekannt? Oder können wir gar nicht mehr anders, weil die neuen Herren der Welt den totalen Krieg wollen und die totale Zerstörung dabei mit einplanen?

Liebe Gemeinde

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ – so beginnt Thomas Mann seinen großen Roman „Joseph und seine Brüder“. Es ist nichts allzu Aufregendes, was er hier in seiner unnachahmlichen Sprache beschreibt: Man kann in der Betrachtung der Vergangenheit noch so weit zurückgehen, man wird doch nie einen ersten Punkt, eine Startsituation finden, aus der alles andere, alles Geschehene sich folgern lässt. Es geschieht, “dass, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar erweisen.“

Es ist aber doch so, dass – auch wenn die Tiefe des Brunnens nicht ermessbar ist, es doch klar sein muss, dass es bei einem unendlich tiefen Brunnen nicht angemessen ist, knapp unter der Wasserlinie den Grund zu behaupten. Auch wenn das in etwa das Niveau der in unserem Land inzwischen üblichen Ursachenforschung von Kriegen und Konflikten zwischen Ländern ist, kann man getrost davon ausgehen, dass mindestens Skepsis angebracht ist, wenn komplexe Herausforderungen mit einfachen Begründungen erklärt werden und folglich mit unterkomplexen Methoden eine Lösung versprochen wird.

„Ja aber irgendwo müssen wir doch einmal anfangen, sozusagen einen Pflock einschlagen, damit unser Nachdenken und unser Bewerten einen Anker haben!“, werden jetzt sicher einige denken.

Ja unbedingt! Nur wo?

Immer bei den anderen, die sich falsch verhalten und nun ihr Verhalten ändern sollen?

Wie wäre es, darüber nachzudenken, dass wir uns, ich mich verrannt habe. Dass wir mit unseren Handlungsmaximen schon lange nicht mehr auf einer wenigstens sozial verträglichen Basis gründen, dass wir mit unseren Ansprüchen und edlen Idealen schon lange nicht mehr die Interessen der Mehrheit, sondern partikulare Interessen einer kleiner werdenden Minderheit vertreten. Dass wir vielleicht sogar auf dem besten Wege sind, aus vorgeblich menschenfreundlichen Motiven, geradezu totalitäre Veränderungen unserer Welt und des Zusammenlebens der Menschen herbeizuführen.

Wie wäre es, wenn wir, wenn ich mit der Veränderung bei mir anfange?

Erinnern Sie sich an den letzten Sonntag und vielleicht auch an die Jahreslosung? „Du bist ein Gott der mich sieht!“ heißt es in der Losung für diese Jahr, Mose antwortete auf die Ansprache Gottes mit „Hier bin ich!“ und Adam – der schwieg voller Scham, als Gott ihn suchte und fragte, wohin er sich verrannt hatte.

Angeschaut werden, gesehen zu werden, ja sogar gesucht zu werden – das wünschen wir uns.

Wenn mich doch jemand wahrnehmen würde, dann ..

Ja, was dann, würde ich dann mein Leben ändern?

Mit dem Wunsch und – das wünsche ich uns allen – mit der Erfahrung gesehen zu werden, ist auch die Sehnsucht nach Veränderung verbunden.

Die Scham über die eigene Verirrung und die Sehnsucht nach Veränderungen gehören zusammen. Das macht das Leben aus, wenn es bewusst gelebt und geführt wird. Wir sind unvollendet, bleiben hinter manchen Möglichkeiten zurück, wissen um die verpassten Gelegenheiten und verspielten Chancen unseres Lebens, kennen unsere Brüche und erahnen die Schuld, die auch auf uns lasten kann. Wir kennen die Verletzungen, die wir erlitten und die wir selbst anderen zugefügt haben und wir wissen, all unseren Erfolgsgeschichten zum Trotz, um unsere Verluste und Niederlagen.

Aber ebenso ist da das, was wir sein können, das worauf wir angelegt sind. Auch im Verborgenen ist die Sehnsucht nach Veränderung zu erahnen und zu sehen. Die Hoffnung auf Zukunft und auf Vollendung; allen Widrigkeiten des Lebens und allen eigenen zweifelhaften Entscheidungen zum Trotz.

Liebe Gemeinde

Matthäus wird mitten in seiner beruflichen Geschäftigkeit angesehen.

Jesus sieht ihn und nimmt ihn wahr und darüber ärgern sich seine Freunde. „Warum der?“ Matthäus ist Zöllner, ein Verräter, ein skrupelloser Geldhai, ein Kollaborateur, der mit der brutalen Besatzungsmacht der Römer zum eigenen Vorteil zusammenarbeitet – ein Mensch.

Jesus kommt und spricht ihn an „Komm mit“ und einem Impuls folgend lässt Matthäus alles liegen und geht mit. Besonders viel wird er an seiner Zollstation von Jesus nicht gehört haben, mit einem wie ihm spricht man nicht gerne. Der Blick Jesu und sein Wort bewirken bei ihm Wahrgenommenwerden. Und das reicht ihm, um aufzustehen und mitzugehen, seiner Hoffnung nach Veränderung Raum zu geben, ja sein Leben auf den Kopf zu stellen.

Jesus eröffnet ihm ein neues Leben, weil er ihn als Mensch ansieht. Und das ist für seine Freunde und die Pharisäer so provokant. Jesus schaut nicht auf die Stellung und den Beruf und er setzt sich damit der Kritik der meisten Menschen aus: alle, die oft überhöhten Zoll zahlen müssen, werden sich abwenden, die Frommen werden kritisieren, weil er sich mit Geldwechslern als quasi religiös Aussätzigen abgibt und für alle, die die römische Fremdherrschaft lieber gestern als heute loswerden wollen, stellt Jesus sich auf die falsche Seite.

Er sieht den Menschen an.

Nicht um den Typ Sünder, Armer oder Kranker geht es, sondern um die Menschen. Wir legen es immer wieder darauf an, dass die Menschen dem Bild ähneln, das wir uns von ihnen machen. Jesus schaut den Menschen an. Damit löst er etwas aus. Matthäus stand auf und folgte ihm nach.

Im anschließenden Mahl wird das erfahrbar, was dieser liebende, barmherzige wirklich sehende Blick Jesu heißt. Licht fällt von ihm, der selbst doch noch ganz unvollendet ist und dessen Leben in den Augen der Welt jäh abreißen wird, hingerichtet als Verbrecher am Kreuz. Licht fällt von ihm auf die, die da versammelt sind. Es sind die Verletzten die mit den Brüchen und Widersprüchen, nicht die mit aufgeblasenen Lebensläufen und aufgehübschten Social-Medi-Accounts.

Im gemeinsamen Mahl wird es erneut zur Erfahrung. Jesus schaut genau hin und weiß, was wir brauchen. Deshalb ist er da, mitten in unserer Schwachheit, gibt er Kraft zum Leben.

Gesehen, angeschaut werden und mein Leben ändern: beides gehört zusammen. Ich bin erkannt in meiner Unvollkommenheit und Schwachheit und muss mich dafür nicht schämen, mich hinter immer perfekteren Masken verstecken.

Für Matthäus ist diese Erkenntnis „Da sieht mich einer wirklich an, da sieht mich einer wirklich“ wie eine Befreiung – er kann, er darf – nicht er muss erst doch noch und eigentlich usw.usf.. Seine Sehnsucht nach einem anderen Leben im Einklang mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen, ja mit Gott findet im Blick Jesus ihre Entsprechung.

Nicht Zorn, Schuld und Angst, sondern dieser liebende und zugleich erkennende Blick rufen ins Leben. Jetzt auf dem Weg zur Passion, 70 Tage vor Ostern, scheint eben jenes Licht auf uns, das in Schwachheit und Ohnmacht, Kraft zum Leben und Mut zur Veränderung gibt.

Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.                     AMEN