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Ansprache zum Jahreswechsel · 31. Dezember 2009 · Hans Misselwitz

Posted on Jan 10, 2010 in Predigten

Wir haben ehrlich gesagt in diesem Jubeljahr 2009 doch schon alles bedacht, die großen Ereignisse des 20. Jahrhundert von 1919 bis 1989. Es musste nur das Jahr mit der 9 sein, also ob das jeweils letzte Jahr eines Jahrzehnts noch immer eine Zugabe bereithält.


Darunter sind zunächst schwierige Daten:
1919 die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und die Weimarer Verfassung, beide erinnern an eine gefährdete Demokratie in Deutschland.
1929 kam es zur großen Weltwirtschaftskrise an die wir aktuell schon unfreiwillig erinnert wurden, und
1939 brach Deutschland den Zweiten Weltkrieg vom Zaun.


Ab 1949 wurde aber gefeiert. Der 60. Jahrestag des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte.
Keiner erinnerte daran, dass dies zugleich das Jahr der von jeweils verantwortlichen Deutschen eingewilligten deutschen Teilung war, die nach der Gründung der DDR am 7. Oktober über 40 Jahre dauerte sollte.
1989 schließlich, das große Jahr der Demokratie für den Osten Deutschlands und Europas, der Beginn des Endes der Teilung Deutschlands und Europas und das erhoffte Ende des Kalten Krieges.


Nun gab das Jahr 2009 seinerseits Anlass genug, das aktuelle Geschehen mit historischen Bezügen zu betrachten.


Vor einem Jahr begann Barack Obamas Präsidentschaft in der Phase des buchstäblichen Bankrotts der USA, des Scheiterns seiner globalen militärischem und ökonomischen Ambitionen. Er ist ein wirklicher Hoffnungsträger, ein Mann der damit aber auch irgendwie bedenklich Gorbatschow nahe kommt, in seiner dereinst fast unmöglichen Lage,
sympathisch und verwundbar erscheinend, visionär und zu Hause festgefahren in den Irrgängen des Systems.


Hoffnung, dass Barack Obama erfolgreicher regiert, gibt es. Dass dies dann seinen Preis an Kompromissen haben wird, wissen wir. Und das, was erreicht ist, ist schon nicht wenig:
Es ist – wie doch wohl vor mehr als 20 Jahren auch – unglaublich viel getan, indem der ideologische Kitt einer gefährlich festgefahrenen Großmacht gelöst, aufgeblasene Feindbilder abgebaut, die richtigen Fragen gestellt worden sind.


International zählen zwei große Reden Obamas im vergangenen Jahr: in Kairo die Friedenserklärung an die muslimische Welt und in Prag die überfällige Absage an den fortgesetzten Kalten Krieg in Europa, für eine atomwaffenfreie Welt.


Es hätte vielleicht eine dritte große Rede geben können, als Obama auf dem Weg von Kairo nach Hause Buchenwald besuchte. Buchenwald statt Bitburg, wo vor 25 Jahren Präsident Reagan von Kanzler Kohl offenbar zu einer Verbeugung auf dem deutschen Kriegerfriedhof genötigt worden ist. Buchenwald ist eine für uns zu wichtige Adresse, um den Besuch nur als
einen Termin für die amerikanische Öffentlichkeit anzusehen. Hier wäre es eine Verbeugung vor allen Opfern des NS-Regimes geworden, die ermordeten politischen Gegnern der Nazis, die Widerstandskämpfer aus ganz Europa, auch tausender Kriegsgefangener. Hier begegnen sich 40 Jahre getrennter europäischer Erinnerungen an diese Zeit. Ich frage mich,
warum Frau Merkel nicht auf den Gedanken kam, und will es nicht glauben, was ich denke.


Dass das Jahr 2009 im Gefolge des Zusammenbruchs eines aberwitzigen kapitalistischen Finanzsystems erstaunliche Erfindungen zeitigte, will ich nur erwähnen: Wir hörten von offiziell Bad Banks, den Müllschluckern in denen das Falschgeld verschwindet und staunten über Boni für bankrotte Bankmanager. Wir bekamen Abwrackprämien geschenkt und zum
Schluss ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz vorgesetzt. Wir lernten die Herren Zumwinkel und Herrn Mehdorn etwas näher kennen – und dürfen annehmen, dass ein Wallstreet-Banker namens Madoff ohne die Krise sein Geschäft mit einem 50-Milliarden- Dollar-Schneeballsystem immer noch betreiben würde.


Wir haben genug. Wir wissen genug. Was kann geschehen? Was sollen wir tun?


Die Welt ist auf einmal sehr eng zusammen gerückt. Sie ist fast schon bedrückend begrenzt, in ihren Wirklichkeiten und Aussichten. Alles hängt miteinander zusammen, das Geld, der Hunger, das Klima.


Manchmal kann man das außerhalb unserer Breiten besser begreifen. Im Oktober diesen Jahres besuchte eine kleine elfköpfige Expedition vom Friedenskreis dieser Gemeinde Südafrika. In Kapstadt trafen wir Neville Alexander, ein freundlicher, fast zierlicher Mann von 73 Jahren, der als Gegner des Apartheid-Regimes 10 Jahre auf Robben Island inhaftiert war,
zusammen mit Nelson Mandela und vielen anderen, mit denen er Konzepte für ein demokratisches und möglichst sozialistisches Südafrika entwickelte.


Heute, 15 Jahre nach dem Ende des Apartheid-Systems, zeichnet er ein überaus kritisches Bild von der Lage seines Landes. Wie fast überall nach 1989 habe auch Südafrika auf das neoliberale Modell freier Märkte gesetzt und – nolens volens – individueller Bereicherung. Nur eine kleine, verschwindende Schicht profitierte. Auf die Gleichheit im Zustand der
Unterdrückung folgte für die schwarze Bevölkerung die Erfahrung zunehmender Ungleichheit in der Demokratie.


Auch die Kirchen hätten versagt, sagte Neville Alexander, weil sie dem kapitalistischen Ethos nichts entgegengesetzt hätten, weil sie dem Konzept der Bereicherung kein Prinzip des Genug, kein Modell eines solidarischen und nachhaltigen Fortschritts vorgehalten hätten.


Dieses wunderbare Land hat alles, was die Welt kennt, die ganze Vielfalt an Natur, Menschen, Kulturen, wirtschaftlicher Entwicklung und Rückständigkeit. Deshalb spürten wir, dass wir gar nicht so weit weg waren, dass es eine Welt, eine Zeit ist, in der wir hier wie dort leben. Sogar Spuren der DDR findet man in Südafrika. Hier versteht man, dass der Umbruch von 1989 nicht nur ein deutsches oder europäisches Ereignis war. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete nicht nur die Auflösung des sowjetischen Imperiums, sondern auch das Ende der in diesem Konflikt vom Westen ausgehaltenen Diktaturen – in Südafrika, in Südamerika, zum Beispiel Chile, in Asien, man denke an Südkorea.


Erst 10 000 km von zu Hause fällt einem vielleicht die nationale Beschränktheit und Vergangenheitsfixierung auf, die uns anlässlich der vielen Jubiläen im zurückliegenden Jahr bestimmte. Dabei hat der Traum von 1989 eine universale Dimension, ein Programm und Versprechen, das alle Freiheits- und Friedenssehnsucht teilt – und weiter nährt. Denken wir
an Iran und China heute, aber auch an Israel und Palästina mit einer schrecklichen Mauer. Und wir hätten mehr daraus machen können, dass der 9. November nicht nur in Berlin, sondern international gefeiert wurde. Welch eine Chance, den Mauerfall als einen Mythos der Überwindung der Teilung der Welt, ein Symbol für die Einen Welt zu feiern!


In Deutschland feiern wir stattdessen den Mauerfall immer mehr als Fest der deutschen Einheit, und wir feiern, als hätten wir die Einheit schon hinter uns.


Der Mauerfall war aber weder der Anfang noch das Ende des Prozesses, dem sie sich verdankt. Das Ringen um demokratische Freiheiten hatte zwar schon lange vorher begonnen, aber es fing in vieler Hinsicht gerade erst an, eine Hoch- Zeit politischer Gestaltung und Freiheit zwischen November 89 und Oktober 90.


Wenn Mauerfall und Einheit in eins gedacht werden, kommt man auch von der Illusion einer konfliktlosen Vereinigung der „Brüder und Schwestern“ nicht los.


Der Historiker Peter Bender meinte, schon in der Rede von der „Wiedervereinigung“ stecke der Grundirrtum der deutschen Vereinigung. Es werde unterstellt, die Ostdeutschen seien über 40 Jahre lediglich eine verhinderte Spezies von Westdeutschen geblieben. Die Tatsache, dass die sozialökonomische Spaltung des Landes und die kulturelle Fremdheit
zwischen Ost und West keineswegs erledigt sind, wird so entweder verdrängt oder geht aufs Konto derer, von denen es heißt, sie seien noch immer nicht angekommen.


Gewiss: Wir haben im Osten eine Menge Vorteile durch den Beitritt zum Westen. Aber der Preis dafür, dass die deutsche Vereinigung von Anfang an nicht als ein offenes Projekt der gemeinsamen Zukunft angelegt war, ist hoch, auch für die Demokratie angesichts einer sich verfestigenden politischen Abstinenz und Distanz.


Warum ist das nicht einfach nur noch Geschichte? Weil sich Gesellschaften ohne einegemeinsame, für Veränderungen offene Zukunftsperspektive innerlich auf Abwehr einstellen, jede Gruppe sich nach eigenem Vermögen die Zumutungen vom Halse hält. Diese Form von Zukunftsunfähigkeit ist gewiss kein deutsches Symptom. Aber wir stehen in der Welt zu gut
da, um uns ein solches Verhalten leisten zu können.


Nach uns die Zukunft – hieß ein jüngst in unserer Gemeinde abgehaltenes Symposium. Getragen vom Friedenskreis und unter Mitwirkung prominenter Persönlichkeiten des vor 20 Jahren abgeschlossenen Konziliaren Prozesses der Kirchen für Frieden, Gerechtigkeit und
Bewahrung der Schöpfung.


Die Frage war, wie es weiter gehen soll, angesichts der Tatsache, dass die einst formulierte vorrangige Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit nicht eingelöst und die vorrangige Option für die Armen nicht durchgesetzt wurde. Nach 1989 haben sich die Verhältnisse international, inWirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändert – und wir ahnen oder wissen bereits, dass wir unsere Ziele und unsere Praxis an einem ganz anderen Horizont orientieren müssen, nämlich europäisch und global, ökonomisch nachhaltig und solidarisch.


Nach uns die Zukunft – sollte heißen, dass wir eine neue Anstrengung, Aufklärung und gesellschaftliche Mobilisierung brauchen, um vor der Zukunft zu bestehen – oder zu versagen.


Es ist nicht so, dass nicht gesehen wird, dass wir erneut und neu handeln müssten. Aber alle neigen dazu, abzuwarten. Wie Erich Honecker, der im Januar 1989 noch erklärte, die Mauer würde noch in 50 oder 100 Jahren stehen. Wie die Hüter des Kapitals, die wissen konnten, dass ihre Blase aus faulen Krediten einmal platzen würde. Nun auch noch die Parallele zu
unserem kollektiven Verhalten in der Klimakrise.


Mit dem Systemabsturz der Finanzen haben wir inzwischen einige Erfahrungen bezüglich der außerordentlichen Kosten zu späten Eingreifens, aber auch positiv mit koordiniertem weltweitem Handeln. Der Systemabsturz unseres Klimas ist inzwischen vorstellbar, seine
Kosten sind es noch längst nicht.


Offenbar ist es für Regierungen und Völker nur schwer möglich, sich das Ende des eigenen Gesellschaftsmodells vorzustellen und laufen eher sehenden Auges in die Katastrophe. So lange leben wir von geborgter Zeit und von geborgtem Geld.


Bleiben wir beim Klima. In Kopenhagen stimmte man im Prinzip überein, dass die Welt längst über alles verfügt, was sie braucht, um die Erderwärmung zu stoppen. Das Wissen, die Technik, sogar die politischen Instrumente. Was fehlt ist offensichtlich ein Verbindungsstück mit dem es gelingt sicherzustellen, dass Gesellschaften umdenken und umlenken.


Wie schafft man diese Verbindungsstück? Manche sagen, durch Fakten könne man die Politiker nicht mehr umstimmen. Man müsse an die jungen Menschen heran, in Schulen und Universitäten, damit die künftig Betroffenen erkennen, dass sie selbst für eine neue Politik sorgen müssen.


Vielleicht geht es um noch etwas ganz anderes, etwas, was Christen eher verstehen können, wenn sie an die Bergpredigt sich erinnern, an die Freiheit des Lebens aus dem Evangelium.


Genug ist ein Fest. Enough is a feast.


Diese Antwort gab uns Neville Alexander, der schwarze Südafrikaner, von dem ich schon sprach. Er kam mir in den vergangenen Wochen immer wieder in den Sinn, und zwar keineswegs auf die gerade hinter uns liegenden Feiertage gemünzt, nur um uns den Spaß am festlichen Mahl zu verübeln.


Genug ist ein Fest – mir erscheint dieser Satz als ein Schlüssel, der uns eine Sichtweise eröffnet, wie wir unsere Lähmung überwinden können. Die Einsicht heißt: es geht nicht nur über den Verstand. Aber auch nicht über den bloßen Verzicht. Es muss auch hier ein Mehrwert locken, die Lust an der Entdeckung von etwas Neuem, ein gemeinsames neues Ziel, am Ende ein Mehr, ein Zugewinn an Freiheit – und zwar durch Teilen. Dann wird es ein Fest sein, denn alle werden genug haben.


Lassen Sie mich schließen mit einem afrikanischen Wort, das auch eine Losung ist und sogar einem schwarzen Siedlung bei Kapstadt den Namen gibt, einem Ort bitterer Armut und zugleich einer großen Hoffnung, die wir dort bei Menschen trafen, die Aids-Waisenkindern helfen:


Das Wort, der Name, die Losung heißt Masiphumelele – wir schaffen es schon!