Predigt · 12. Sonntag nach Trinitatis · 7. 9. 2025 · Thies Gundlach
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn JC. Amen
Liebe Gemeinde,
wir waren in dieser Woche in Odessa, einer wunderschönen Stadt am Schwarzen Meer im Süden der Ukraine: ein bisschen wie Paris wegen der vielen Alleen, ein bisschen wie Stralsund wegen des Meeres vor der Haustür, ein bisschen wie Hamburg, wegen der Prachtboulevards, und ein bisschen wie Berlin, wegen der vielen Cafés, Geschäfte und Autos, emsigen Menschen und – bis zur Sperrstunde um 24 Uhr – wegen der vielen jungen Leute, unterwegs auf der Suche nach Leben. An sich also eine ganz normale europäische Großstadt mit ca. 1 Millionen Einwohnern. Aber zugleich:
In der Nacht insgesamt vier Mal „air alert“, also Drohnenalarm! Über das Handy wird die gesamte Bevölkerung eines Oblast, also eines Regierungsbezirkes, unüberhörbar gewarnt und aufgefordert, in die Bunker zu flüchten. In dieser einen Nacht, die wir da waren, gab es „air alert“ um 23.05 Uhr, um 1.24, um 2.45 und um 3.33 Uhr. Die Drohnen und Raketen fliegen von Ost nach West, also von Rußland Richtung Rumänien, und da niemand genau sagen kann, welches Ziel sie haben, müssen alle Bezirke, die auf dem Weg liegen, gewarnt werden. Ein ganzes Land wird so Tag und Nacht im Alarmzustand gehalten! Einen nicht ganz unbedeutenden ukrainischen Künstler, den wir am nächsten Morgen trafen, fragte ich, wie er denn mit diesem ständigen Alarm umginge; seine Antwort: Du musst nach dem Alarm einen Moment leise sein und horchen; wenn kein Geknatter anfängt, kannst du dich umdrehen und weiterschlafen. Wenn du in der Ferne Geknatter hörst, zieht dir Hemd und Hose an und horche weiter. Wenn das Geknatter nicht näher kommt, schlaf weiter. Wenn es näher ommt, dann sieh zu, dass du in den Bunker kommst. Das Geknatter ist natürlich das Abwehrfeuer.
So kann man als Privatperson agieren, aber offiziell geht das natürlich nicht. Jeder Kindergarten, jede Schule, jede Behörde, jede amtliche Institution muss bei Alarm reagieren! Unsere Frage an eine Abiturklasse, wie oft sie in den Keller müssten, führte zu einem müden Lächeln und der Antwort: fast täglich! Wir fragten auch nach Plänen nach dem Abitur: die Mädchen sagten ganz überwiegend: wir möchten studieren, von Medizin bis IT, am besten im Ausland, um dann unserem Land zu helfen. Die Jungs aber schwiegen und sagten nur auf Aufforderung hin: Wir wissen es nicht! Wir müssen vielleicht zur Armee, vielleicht an die Front. Und sie sahen dabei müde, erschöpft, irgendwie alt aus.
Liebe Gemeinde, wir sind nur zwei Tage in Odessa geblieben, aber seit diesem Besuch sind mir zwei Dinge noch einmal sehr klar geworden: Es liegt ein Kummer auf diesem Land, eine Schwere und Last, die mit diesem unendlichen Daueralarm für alle Oblasten zu tun hat. 1251 gestörte Nächte, unter Tage rennende Schüler*innen, Sperrstunden, zerstörte Häuser, verletzte und getötete Menschen – das nagt an jeder Lebensfreude und jedem Zukunftsmut. Aber zugleich: Dieses geschundene Land widersteht seit 1251 Tagen dem viel größeren, viel stärkerem Angreifer Russland, weil die Menschen mit eiserner Entschlossenheit weder Putin noch Russland im Land haben wollen. Sie sind die tapferen Verteidiger und zahlen einen hohen Preis für diesen Willen. Das lässt mich trotz aller biblischen Friedensverpflichtung sagen: Ich jedenfalls möchte ihnen nicht in den Rücken fallen wie manche unrealistische Friedenserwartung mancher irrlichternden Führer der sog. freien Welt. Ich möchte nicht über die Köpfe der Kämpfenden hinweg einen Frieden anstreben, der zuerst meiner Sehnsucht nach Frieden dient, nicht aber einem gerechten Frieden. Denn zu einem gerechten Frieden sind wir Christ*innen verpflichtet, nicht zum Frieden um jeden Preis.
II.
Liebe Gemeinde, der Predigttext für den heutigen Sonntag hat nur auf den ersten Blick nichts mit diesen Odessa-Erlebnissen zu tun; auf den zweiten Blick sehr wohl. Aber hören sie selbst – unter der Überschrift „Heilung des Gelähmten“ erzählt die Apostelgeschichte (3, 1-10) Folgendes:
„Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.“
Gelähmte wurden damals vor den Tempel, denn es galt: Wer „spezielle Bedürfnisse“ hat, darf nicht in den Tempel, er darf nicht unmittelbar zu Gott beten, sondern muss an der Schwelle zum Heiligtum liegenbleiben. Das ist Gott sei Dank nicht mehr unser Stand der Dinge, uns geht es heute um Inklusion, nicht um Exklusion. Daher kann ich gut verstehen, dass viele diese Wunderheilungen in der Bibel eher schwierig finden, denn die subkutane Botschaft lautet ja immer: Mit speziellen Bedürfnissen bist du ein Mangelwesen, hast du einen Minderstatus gegenüber Gesunden. Aber natürlich galten damals andere Maßstäbe; und der Text will auch etwas anderes erzählen: Es geht in ihm nicht zuerst um Heilung, sondern um Heil! Also um eine symbolische Geschichte, die etwas erzählen will von der Kraft des Glaubens an Jesus Christus, nicht aber von medizinischen Wundern. Deswegen können wir mindestens drei Dimensionen heraushören:
Zuerst: Es geht darum, dass der Gelähmte ein Ansehen gewinnt. Petrus will den Gelähmten zuerst und vor allem auf Augenhöhe bringen. Der Bettelnde schlägt die Augen nieder, weil er selbst sich klein, schäbig, unwert findet.
Petrus aber will ihn ansehen, will Augenkontakt herstellen, will ihm ein Ansehen geben, also symbolisch gedeutet: Petrus will ihn aus der Demutshaltung rufen. Ich kann dir nur helfen, wenn du dich nicht klein machst, nicht unwürdig machst, darum: Sieh mich an! Hebe deine Augen auf zu uns als deinem Gegenüber, der dich nicht weniger oder unwerter findet. Sieh mich an, und sei nicht auch noch innerlich gelähmt!
Sodann: Es geht nicht um Sensationen, sondern um Zuständigkeit. Denn was die beiden nicht haben, ist Gold und Silber. Sie setzen der Erwartung Grenzen, Petrus und Johannes haben gerade das nicht, was ein Bettler gerne haben möchte: Gold- und Silbermünzen. ER erwartet das Falsche von Ihnen! Sie sorgen erst einmal für Enttäuschung, für Korrektur des Bettelwunsches. Symbolisch gedeutet: Wir wollen dich gerade nicht auf der Ebene des Bettelns lassen! Wir bestätigen gerade nicht deine Rolle als ohnmächtig Gelähmten, indem wir dir ein paar Groschen zuwerfen. Wir holen Dich aus der Rolle des Bettlers heraus und bestärken sie nicht durch Gold und Silber. Wir haben eine andere Zuständigkeit, wir sind in doppelter Weise nicht zuständig für die Gabe von Gold und Silber. Weder wollen wir dich in der Rolle des ewigen Bettlers bestärken noch wollen wir, dass du ewig vor der Schwelle zum Heiligen liegenbleiben musst. Deswegen: Gold und Silber haben wir nicht!
Aber Drittens: Geben können wir Dir einen Namen, eine Zuversicht, eine Hoffnung, einen Trost, eine innere Stärkung, die dich aufstehen lässt, die deine Füße fest und deine Knöchel stabil macht. Symbolisch gedeutet: Wir können dir mit diesem Namen über die Schwelle zum Tempels helfen, sodass du unmittelbar zu Gott beten kannst. Der Glaube an Jesus Christus schenkt dir feste Knöchel, er ermöglicht dir einen graden Rücken und ein aufrechtes Kreuz, du kannst wieder stehen und gehen und gehst auf eigenen Beinen in den Tempel, um Gott zu loben. Es geht hier nicht zuerst um biologische Verblüffungen, sondern um geistliche Wahrheiten. Wer dem Namen Jesus Christus vertraut – so die Botschaft -, der ist kein gelähmter Bettler, sondern hat ein Ansehen bei Gott und kann eigenständig vor Gott treten.
III.
Liebe Gemeinde, in meinen Augen ist das Grundsätzliche an dieser Geschichte, dass sie uns an unsere Kernkompetenz, an unsere geistliche Zuständigkeit, unsere spirituelle Aufgabe erinnert. Es geht nicht um Gold und Silber, sondern einen inneren Weg zu Gott. Natürlich: Heil und Heilung sind keine Gegensätze, sondern – wie ja auch die Geschichte des zuletzt tanzenden Gelähmten zeigt – sie gehören ineinander und zueinander, jede innere Änderung hat auch äußere Folgen. Aber mitunter wirkt unsere Kirche so, als gelte nur noch die äußere, konkrete, materielle Hilfe. Das verkündigte Wort, der weitergegebene Trost des Evangeliums, die über den Tag hinausgehende Unverzagtheit und all die anderen inneren Haltungen gelten uns selbst mitunter zu wenig. Als trauten und glaubten wir diesen Worten selbst nicht mehr so ganz, als könnten nur konkreten Hilfen und nachweisbare Verbesserungen in Frieden, Umweltschutz und Gerechtigkeit unseren Glauben glaubwürdig machen.
Aber wie soll eigentlich eine Gesellschaft, die offensichtlich in immer schwieriger werdenden Zeiten gerät, aufrecht und ohne Hass, in Würde und ohne Gier, mit Haltung und ohne Bosheit diese Zeiten bestehen, wenn all diese inneren Stärken nicht mehr erinnert werden? Wie soll diese Dauerskandalisierung schon der kleinsten Nebenschauplätze auf Normalmaß runtergedimmt werden, wenn es auch uns als Kirche nur noch um Äußerliches, Materielles, Diesseitiges geht? Der Glaube stärkt den „inwendigen Menschen“, der ist nicht alles, aber ohne ihn dominiert allein das Äußerliche. Oder theologisch gesprochen: Wir bewegen uns mitunter hin zu einer äußerlichen Werkgerechtigkeit, die schon Martin Luther für Verrat am Evangelium hielt, wenn wir uns selbst nur noch daran messen, ob wir Umweltschutz, Demokratie oder Vielfalt stärken. Vergessen wir nicht: Gold und Silber haben wir nicht, wohl aber Jesus Christus als den, der uns über die Schwelle der Lähmung hinwegträgt hin zum Tempel Gottes.
IV.
Liebe Gemeinde, nun habe ich mich ein wenig in Rage geredet, dies aber auch, weil ich gerade hier eine Verbindung zu den Erfahrungen in Odessa sehe. Wir sind als Kirche auch hier nicht diejenigen, die Gold und Silber weiterzugeben haben, wohl aber diejenigen, die den Menschen dort nicht für Gelähmte, für Bettler halten sollten, die die Augen gefälligst niederzuschlagen haben und demütig um Hilfe betteln müssen. Manche Mächtigen haben ja offenbar Spaß daran, diese Kämpfenden zu Bettelnden zu machen, aber unser Beitrag sollte sein: Wir sind auf Augenhöhe, wir sehen uns an, wir lassen dich nicht als gelähmten Bettler vor der Tür liegen. M.E. liegt genau hier ein Grund für die Rede von unserer Freiheit, die in der Ukraine verteidigt wird: Du bist kein Bettler, sondern hast ein Ansehen auf Augenhöhe. Und wir wollen deinen Kampf nicht für gelähmt, für aussichtslos und vergeblich halten, solange du selbst starke Füße und stabile Knöchel hast. Solange die Ukrainer sich selbst nicht aufgeben, haben wir kein Recht, sie wegen unserer Friedenssehnsucht für gelähmt zu halten. Solange sie sich nicht selbst für gelähmt halten, sollten wir ihren Mut und auch ihre Leidensbereitschaft mit Respekt sehen und eher für sie beten als ihnen Friedensvorschläge jenseits eines gerechten Friedens zumuten. Denn aller unserer Friedenssehnsucht zum Trotz dürfen wir nicht die Warnung des Propheten Jeremia vergessen: Sie „heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: »Friede! Friede!«, und ist doch nicht Friede.“ (Jeremia 6,14 und 8,11). Amen