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Predigt · 4. Sonntag nach Trinitatis · 13. 7. 2025 · Ruth Misselwitz

Posted on Juli 15, 2025 in Predigten

Lukas 6, 36 – 42

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“

Liebe Schwestern und Brüder,
stellen Sie sich einmal vor, Jesus würde hier in der Kirche stehen
und diese Worte zu uns sagen.
„Seid barmherzig, wie auch Gott, euer Vater, barmherzig ist“ –

Na, ich bin doch nicht Gott – wäre da meine erste Reaktion.

So zu sein wie Gott ist doch eine totale Überforderung
oder eine unzulässige Überhöhung meiner Person,
das grenzt ja an Gotteslästerung.

Der Evangelist Matthäus geht sogar noch weiter, er sagt:

„Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel
vollkommen ist.“ (Matt. 5,48)

Schauen wir uns doch mal an – da springt uns doch unsere ganze
Armseligkeit und Unzulänglichkeit geradezu ins Gesicht.

Ich denke, so ähnlich werden sich auch die Zuhörer und
Zuhörerinnen gefühlt haben, als sie Jesus predigen hörten,
auf dem Berg am See Genezareth im Matthäusevangelium, auf dem Feld in der Lukaserzählung.

Es ist die berühmte Berg- oder Feldpredigt,
die wir vorhin aus dem Lukasevangelium hörten,
die Jesus am Anfang seiner öffentlichen Tätigkeit seiner
Anhängerschaft kundtut.
Und diese Anhängerschaft setzte sich überwiegend aus der ländlichen
Bevölkerung zusammen –
Bäuerinnen, Fischer, Handwerker, Hausfrauen, auch der eine oder
andere Schriftgelehrte war wohl darunter.
Sicher keine allzu gottesfürchtigen und frommen Menschen.
Aber Jesus fordert diese Menschen auf, sich wie Kinder Gottes zu
verhalten.

Jesus spricht Gott als Vater an.

Und wenn er das tut, dann heißt das,
dass er sich als ein Kind Gottes versteht.
Und so spricht er auch die Leute um sich herum an.
„Ihr seid Kinder Gottes, wenn ihr Gottes Willen tut“

Ein Kind trägt die Gene seiner Eltern in sich.
Das heißt: Wenn ich oder Du Gott als Vater ansprichst –
und wir tun das jeden Sonntag im Vaterunser –
manche sogar noch öfter,
dann verstehen wir uns als seine Kinder.

Und die Kinder treten das Erbe ihrer Eltern an,
so wie es Paulus im Römerbrief beschreibt:
„Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes
Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch
mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.“ (Röm. 8,17)

Liebe Schwestern und Brüder, als Kinder Gottes tragen wir die
göttlichen Gene in uns – das heißt:

wir sind dazu befähigt, den Willen Gottes zu tun.

Das ist schon mal eine großartige Begabung, die Gott einem jeden
von uns in die Wiege gelegt hat.

Und das unterscheidet uns wohl von der Tierwelt.

Der Theorie leuchtet ein – die Praxis bietet allerdings ein völlig
anderes Bild.
So wie die Erde aussieht und wie sich die Menschen auf ihr
benehmen,
scheint das vom Willen Gottes weit entfernt zu sein.

Im Gegenteil, wenn so viel Zerstörung, Hass und Gewalt der Wille
Gottes sein soll, dann habe ich große Zweifel an der Liebe Gottes.

Ja aber, was ist denn der Wille Gottes? – fragen wir uns in dem
Gewirr aus Meinungen, Wahrheiten und Gesinnungen.

Die Antwort haben wir als Christen im Leben, Sterben und
Auferstehen Jesus von Nazareth bekommen.

Sein Grundwerteprogramm steht in der Bergpredigt –
bei Lukas in der Feldpredigt.

Seid barmherzig, richtet nicht, verdammt nicht, liebet eure Feinde,
bittet für die, die euch verfolgen, haltet eure rechte Wange hin, wenn
ihr auf die linke geschlagen werdet usw. usw.

Lauter Sachen, die alles andere als normal,
geschweige denn machbar wären.

Und doch wird uns das zugemutet.

Es ist das Gegenmodell, der Ausweg aus den lebenszerstörenden
Strukturen dieser Welt.
Der neue Weg, der eingeschlagen werden kann,
wenn der alte in den Abgrund führt.

Das Stoppschild in einer sich mehr und mehr zerstörenden
Gesellschaft, die im Hass und im Zorn blind geworden ist.

„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den
Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“ – sagt Jesus.

Liebe Schwestern und Brüder,

wir leben in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft und diese Welt
immer mehr gespalten wird in Arm und Reich, Ost und West, Nord
und Süd, Links und Rechts.

Und die Gegensätze verschärfen sich beängstigend rasant.

Habe ich noch nach dem Mauerfall von einem geeinten Europa
und einer Welt geträumt, die mehr und mehr zusammenwächst,

so stelle ich heute mit Erschrecken fest,
dass Europa seine Grenzen wieder dicht macht
und innerlich auseinanderfällt in nationale Eigeninteressen und
Abgrenzungen,

dass alte Feindbilder wieder reaktiviert werden
und Sicherheit wieder über militärische Stärke definiert wird.

dass auf Kosten der lebenserhaltenden Strukturen,
wie Umweltbewahrung und soziale Errungenschaften,
Finanzen wieder für Rüstung und Machterweiterung verschwendet
werden.

Und wenn uns weiterhin eingeredet wird,
dass wir kriegstüchtig werden müssen,
dann wird der Krieg auch kommen.

Hier braucht es ein klares Stoppschild,
ein Umdenken im gegenseitigen Miteinander,
ein Ruf zur Umkehr – zur Buße.

„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken
in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu
deinem Bruder: Halt still Bruder, ich will den Splitter aus deinem
Auge ziehen und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge?
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann
zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“ (Lk. 6,42)

Liebe Schwestern und Brüder, es ist im Kleinen wie im Großen
immer dasselbe:
in Konfliktfällen zeigen wir zuerst mit dem Finger auf den anderen
und klagen an: Der hat angefangen – ich bin unschuldig.

Dank der Friedens- und Konfliktforschung wissen wir,
dass in internationalen Konfliktfällen immer mehrere Akteure ihre
Finger mit im Spiel haben,
die Opfer aber sind immer die Kinder, die Frauen, die Tiere und die
Umwelt.

So ist es unsere Pflicht, nach den Ursachen zu forschen
und zuerst danach zu fragen, was ich tun kann,
um den Konflikt zu entschärfen
und sich nicht dahinter zu verstecken – der andere will ja nicht.

So hat der Krieg in der Ukraine nicht mit dem Überfall Russlands auf
die Ukraine angefangen
und der Krieg im Gazastreifen nicht mit dem Überfall der Hamas auf
Israel.
Beides hat eine lange Vorgeschichte und um den Konflikt zu lösen,
muss man sich schon die Mühe machen, diese Geschichte genau
anzuschauen.
Das entschuldigt nicht Gewalt und Menschenrechtsverletzungen,
aber es hilft, Konflikte zu verstehen und gemeinsam nach Lösungen
zu suchen.
Und wichtig dabei ist, den eigenen Anteil an diesen Konflikten
aufzudecken
und vor allen Dingen, alles zu tun, um diese Konflikte so
einzudämmen und zu lösen,
dass sie nicht noch mehr Menschenleben fordern
und Abgründe vertiefen.

Politiker und Militärs mögen da ihre eigenen Lösungen und
Interessen haben,

wir als christliche Kirchen aber sind an die Vorgaben,
die uns Jesus in der Bergpredigt überliefert hat, gebunden.

Pazifisten – Friedensstifter – zu sein,
wie es Jesus von uns erwartet,
ist nicht eine Modeerscheinung, die in Friedenszeiten als Banner auf
Demos vor sich hergetragen,
aber in Krisenzeiten als überholt und realitätsfern abgeworfen werden
kann.
Pazifist zu sein ist eine innere Haltung, die uns eine Menge
abverlangt, oft genug in tiefe Zweifel stürzt und uns demütig werden
lässt.

Der Balken, den wir dann in unserem Auge entdecken,
stellt sich unter Umständen bei genauem Hinschauen sehr viel größer
dar,
als der kleine Splitter, den wir bei unserem Gegenüber entfernen
wollen.

Wir finden in unserer Bibel andere Lösungswege als die Modelle,
die auf Stärke und Abschreckung setzten.
Sicher finden sich in unserer Bibel auch Geschichten von Hass und
Gewalt.
Das entbindet uns aber nicht, auf die Texte von Jesus und von Paulus
zu hören, die uns auf den Weg des Friedens leiten.

„Wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen, dürstet ihn, gib ihm
zu trinken…so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“
(Röm. 12,20) – so hörten wir es vorhin aus dem Römerbrief.

Das hat sich Paulus nicht selber ausgedacht,
das hat er in seiner Heiligen Schrift, im Buch der Sprüche Salomos
gefunden.

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem….. Lass dich nicht vom
Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Röm.
12,17,21) – so schreibt er weiter.

Mit solch einer Haltung fallen die Pazifisten der Gewaltspirale in die
Speichen.
Auch wenn es nicht immer gelingt, sie zum Stoppen zu bringen,
ja selbst wenn sie Gefahr laufen, in den Speichen zermalmt zu
werden,
so setzten sie doch damit ein eindeutiges Zeichen für die Botschaft
Jesu.

Ich habe eine sehr große Ehrfurcht vor all den Menschen, die das
getan haben im Laufe der Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag.

Leider höre ich zur Zeit aus unserer eigenen Kirche wenig bis gar
keine solche Stimmen.

Liebe Schwestern und Brüder,
Gott sei Dank haben wir die Heilige Schrift,
sie erinnert und ermahnt uns, den Weg des Friedens zu finden
und zu gehen.

Bitten wir um die Kraft des Heiligen Geistes,
dass er uns schütze vor allem Bösen und stärke zu allem Guten.
Amen.