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Ansprache · 7. Mai 2025 · „80 Jahre Frieden in Deutschland“ · Pfarrerin i.R. Ruth Misselwitz

Posted on Mai 8, 2025 in Predigten

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!
Morgen am 8. Mai vor 80 Jahren wurde der 2. Weltkrieg beendet. Die alliierten Streitkräfte erklärten Deutschland für besiegt und vereinbarten einen Waffenstillstand.
Wir gedenken heute der Opfer des 2. Weltkrieges – auch dieser wurde von Deutschland entfacht.
Wir gedenken der Opfer auf allen Seiten, der zivilen wie der militärischen Toten in ganz Europa
und darüber hinaus. Die Völker der Sowjetunion hatten mit 27 Millionen Toten die größte Last zu tragen.
Wir gedenken der Menschen, die unter dem Trauma dieses Krieges bis in die 2. und 3. Generation leiden.
Wir gedenken aller Opfer des vergangenen und der gegenwärtig stattfindenden Kriege.
Wir erinnern uns und haben die Pflicht, uns unserer deutschen Geschichte zu stellen.
Wir – die nach dem Krieg Geborenen – tragen keine Schuld, aber ein schweres Erbe, dem wir uns zu stellen haben.
Wir haben eine besondere Verantwortung für die Zukunft Europas, die wir nur gestalten können, wenn wir unsere Vergangenheit kennen.
Es gibt ein jüdisches Sprichwort: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Dieser Krieg hinterließ nicht nur in Deutschland Schutt und Asche, in den Weiten des Ostens verbrannte Erde, Millionen Geflüchtete und Vertriebene in ganz Europa, verwundete und hasserfüllte Seelen auf allen Seiten, durch das Gift nationalistischer Abgrenzung, rassistischer Volksverhetzung und antisemitischer Wahnvorstellungen.
Die vielen mahnenden Stimmen nicht nur in Deutschland sondern auch in den von Deutschland besetzten Ländern wurden zum Schweigen gebracht. Die befreiten Vernichtungslager offenbarten ein Bild des Grauens und die Frage, wie es denn um Gottes Willen dazu kommen konnte. Die Geschichte hat gezeigt, dass in jedem Krieg Grausamkeiten und Menschenrechtsverletzungen geschehen – es gibt keine sauberen Kriege – dieser Krieg aber sucht in der Geschichte seinesgleichen. Und wer heute einen Politiker, wen oder wo auch immer, mit Hitler gleichsetzt, verharmlost die 6 Millionen jüdischen Opfer des Holocaustund die Abermillionen Toten des deutschen Vernichtungskrieges. Das ist dumm und geschichtsvergessen.

Der 8. Mai bedeutete für die einen Kapitulation und Niederlage, für die anderen Befreiung und Neuanfang. Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus! Europa wurde geteilt – so auch unser Land.
Deutschland sollte so eingebunden und kontrolliert sein, dass von seinem Boden nicht wieder ein Krieg ausgehen könnte. Der westliche Teil Deutschlands wurde integriert in die westliche Staatengemeinschaft mit den USA an der Spitze, der östliche wurde Teil des von der Sowjetunion dominierten
Osteuropas. Wir machten unterschiedliche Erfahrungen mit unseren Besatzern und deren Gesellschaftssystemen.
Die Bundesrepublik überwand in einem langen Prozess die Feindschaften zu Frankreich und den anderen westlichen Ländern, nahm am wirtschaftlichen Aufschwung der westlichen Welt teil und baute einen demokratischen Staat auf.
Die DDR hatte es schwerer angesichts der Nachkriegsfolgen im Osten, der Reparationsleistungen und der wirtschaftlichen Not. Wir teilten mit unseren östlichen Nachbarländern dieses gemeinsame
Schicksal. Nach und nach knüpften wir Beziehungen und Freundschaften mit Menschen aus den Völkern der Sowjetunion und den Ländern im Osten. So lernten wir die Traumata, die der deutsche Vernichtungskrieg hinterließ, persönlich kennen. Wir wussten um vergewaltigte Frauen auf beiden Seiten,
hörten aber auch die Geschichten unserer Eltern, die in den Trümmern von Berlin durch den sowjetischen
Stadtkommandant Bersarin vor dem Hungertod bewahrt wurden – und das wenige Monate nach der zweijährigen Hungerblockade über Leningrad durch die deutsche Wehrmacht, der eine Million russische Menschen, insbesondere Kinder und Frauen, zum Opfer fielen.
Ich erinnere mich noch gut an meine Scham als Christin und Deutsche, wenn ich mit Überlebenden des Holocaust zusammenkam oder mit Menschen, deren Heimat von der deutschen Wehrmacht verwüstet wurde. Und diese Scham begleitet mich bis heute.

Es gab nach den Schrecken des Krieges unzählige Menschen, die sich der Schuld der Deutschen gestellt
und für die Überwindung von Hass und Feindbildern gearbeitet haben. Langsam fanden die Nachbarländer wieder Vertrauen zu Deutschland. Eine wichtige Aufgabe für Erinnerung und Versöhnung
übernahmen Organisationen in den Kirchen beider deutscher Staaten.
Aktion Sühnezeichen stellte sich der deutschen Schuld gegenüber den Juden, den slawischen Ländern
und den anderen Opfern des Nationalsozialismus und bekannte sich in aller Öffentlichkeit zu der eigenen Schuld, für die Überwindung von Hass und Gewalt und arbeitete aktiv für Versöhnung und Frieden.
Die Hoffnung auf ein gemeinsames Europa aber hat sich nicht erfüllt. Über 40 Jahre, durch militärische Blöcke getrennt, wurden alte und neue Feindbilder auf beiden Seiten aufgebaut und bedient, der kalte Krieg beherrschte das europäische politische Klima.
Aber die Schrecken des Krieges waren in der Bevölkerung noch zu präsent und die Sehnsucht nach Frieden zu stark. Die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen und die Furcht vor einem erneuten Krieg trieb unzählige Menschen im Westen auf die Straßen – im Osten öffneten die Kirchen ihre Häuser.
So auch hier in Pankow.
Wir übten uns im gewaltlosen Widerstand gegen Hass und Abgrenzung, gegen Geist, Logik und Praxis der militärischen Abschreckung und für Demokratie und Menschenwürde. In einem einzigartigen Zusammenspiel von internationalen zivilgesellschaftlichen, politischen, militärischen und kirchlichen Akteuren in Ost und West wurde damals Europa vor einem Krieg bewahrt, indem vertrauensbildende Maßnahmen gewagt wurden, das Konzept der gemeinsamen Sicherheit entwickelt, Rüstungskontrollverträge geschlossen und Abrüstungsschritte mutig vollzogen wurden.
Das alles führte am Ende zur deutschen Einheit.

Wir haben damals vor 36 Jahren hier in unserem Land eine gewaltlose Revolution erlebt und mitgestaltet
und wissen, dass Konfliktlösungen ohne Gewalt weder naiv noch dumm sind, sondern möglich und vernünftig.
Das östliche Militärbündnis und die Sowjetunion wurden aufgelöst und der damalige sowjetische Präsident Michael Gorbatschow, dem wir zu einem Großteil unsere Wiedervereinigung zu verdanken
haben, sprach von einem Haus Europa, in dem auch Russland eine sichere Wohnung erhält.
Unsere Hoffnung auf eine Ära des Friedens hat sich nicht erfüllt.
Inzwischen sind mehrere völkerrechtswidrige Kriege in Europa und anderswo ausgebrochen.
Der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf die Ukraine hat Europa in einen Schock versetzt
und der angedrohte Rückzug der USA aus der Nato erschüttert die europäische Sicherheitsarchitektur.
Sollen wir nun als Antwort auf diese Verunsicherung mit einer beispiellosen Aufrüstungskampagne reagieren, die die Furcht voreinander verstärkt und die Gräben nur noch weiter vertieft?
Wollen wir wirklich dafür alle unsere geistigen und materiellen Ressourcen opfern,
die wir für eine gerechte, eine ökologische, eine friedliche Welt benötigen?

Wir Menschen leben aus den Geschichten und Erfahrungen unserer Väter und Mütter.
Eine dieser Geschichten hat unsere Kirchengemeinde besonders geprägt:
In der Nacht vom 14. November 1940, zu Beginn des 2. Weltkrieges, wurde die englische Stadt Coventry von der deutschen Wehrmacht vollständig zerstört, auch die mittelalterliche Kathedrale.
Am Morgen nach der Brandnacht fertigte der damalige Propst der Kathedrale aus den halbverkohlten Dachbalken ein Brandkreuz und setzte darüber den Schriftzug: „Vater vergib“ Dieser Schriftzug war von Anfang an umstritten. Eine Gruppe von Einwohnern Coventrys wollte eine andere Version: „Vater vergib ihnen“, aber Propst Howard erwiderte: So kann nur Jesus am Kreuz sprechen.
Wir alle haben gesündigt. Wir alle brauchen Vergebung. Aus diesem Geist des Bekenntnisses der eigenen Schuld und Verantwortung und der Bitte um Vergebung ist später das Versöhungsgebet entstanden,
das wir nachher sprechen werden und das jeden Freitag in unserer Kirche gebetet wird.
Es beginnt mit den Worten des Apostel Paulus:
„Alle haben gesündigt und mangeln des Ruhmes,
den sie bei Gott haben sollten,
darum lasst uns bitten: Vater vergib.“
Aus den beiden Erzfeinden Deutschland und England sind in den Jahrzehnten danach befreundete Völker geworden. Die kleine Gemeinde um Propst Howard legte den Grundstein dafür in der dunkelsten Bombennacht 1940 und baute so Brücken in die Zukunft hinein. 1962 – ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer, mitten im kalten Krieg, erhielt unsere Pankower Gemeinde das Nagelkreuz aus Coventry.
Die Schwestern und Brüder aus der zerstörten englischen Kathedrale reichten das Kreuz durch den eisernen Vorhang hindurch mitten hinein in eine Hauptstadt des feindliches Lagers – Berlin-Pankow.
Die Pankower Gemeinde nahm das Versöhnungsangebot an und pflegte allen Schwierigkeiten und Behinderungen zum Trotz die Beziehung mit Coventry.
Heute trennt uns keine Mauer mehr, die Feindschaft ist überwunden. Wir aber fühlen uns auch heute immer noch diesem Friedensdienst verpflichtet und versuchen, dem Auftrag der Versöhnung zwischen befeindeten Lagern gerecht zu werden
Ich möchte schließen mit der Bitte, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker
in seiner Ansprache vor dem Bundestag zum 8. Mai 1985 an die jungen Menschen richtete:
„Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander….
Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai,
so gut wir können,
der Wahrheit ins Auge.“
Ich danke Ihnen.