Predigt · 3. Sonntag nach Trinitatis · 20. Juni 2010 · Pfarrerin Ruth Misselwitz
Gedenktag der Toten an den Grenzen der EU
Matthäus 25, 31-46
31 Vom Weltgericht
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit,
und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner
Herrlichkeit,
32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird
sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken
scheidet,
33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur
Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt
her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet
ist von Anbeginn der Welt!
35 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin
ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.
36 Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank
gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen,
und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann
haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder
durstig und haben dir zu trinken gegeben?
38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich
aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet?
39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind
zu dir gekommen?40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich
sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten
Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir,
ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und
seinen Engeln!
42 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen
gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken
gegeben.
43 Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht
aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht
gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich
nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben
wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt
oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch:
Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr
mir auch nicht getan.
46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die
Gerechten in das ewige Leben.
Liebe Schwestern und Brüder,
ein harter, ein kompromissloser Text, den Jesus seinen Jüngern und
Jüngerinnen zumutet.
Ewiges Leben auf der einen und ewige Strafe auf der anderen Seite.
Wir neigen dazu, solche Texte weichzuspülen,
weil sie uns ängstigen, weil wir uns mit Sicherheit auf der Seite der ausgesonderten Böcke wieder finden würden,
weil sie so gar nicht in das Bild des liebenden und gnädigen Gottes
passen,
weil wir nichts mehr hören wollen von Gericht und vom strafenden
Gott,
weil uns das sowie so fremd ist die Vorstellung von einem Ende der
Zeiten und einem Weltgericht aller Völker.
Liebe Schwestern und Brüder,
solche Abwehreaktionen hatten wir auch im Bibelkreis, als wir den
Text lasen.
Doch dann versuchten wir uns in die Rolle eines bootpeople
hinzuversetzen,
der mit unzähligen anderen Flüchtlingen tagelang im Meer auf einem
wackligen Boot treibt,
der sein ganzes Hab und Gut dafür hergegeben hat,
seine Heimat, seine Familie und Freunde verlassen hat,
um entweder dem Hunger und dem Elend zu entkommen,
den mordenden und vergewaltigenden Soldaten aus
Bürgerkriegsgebieten,
oder den Gefängnissen einer diktatorischen Macht, die einem nach
dem Leben trachtet.
Und dann nach tagelangem Überlebenskampf kommt eine
Grenzpatruillie,
zwingt das Schiff zur Umkehr und alles Bangen und Hoffen, alle Entbehrungen und Opfer alles, alles war umsonst.
Liebe Schwestern und Brüder – in solch einer Situation kann einem
schon ein Fluch über die Lippen kommen,
ein Fluch über die unbarmherzigen und gefühlslosen Menschen,
die ihre Augen, Ohren und Türen verschließen
vor dem Elend auf dieser Welt.
In solch einer Situation ist solch ein Text wie dieser
die einzige, die letzte Hoffnung, die einem geblieben ist –
Gott schafft Recht –
auch wenn ich das heute und hier noch nicht erlebe –
Gott wird dafür sorgen, dass jeder und jede zur Rechenschaft gezogen
wird
und sich für seine Taten und Untaten verantworten muß.
Für die Opfer, die Verlierer, die Geschundenen und Gedemütigten
dieser Welt
ist solch ein Text die Wiedergewinnung ihrer verlorenen
Menschenwürde.
Gott sieht ihr Elend und er wird für Gerechtigkeit sorgen.
Ja, er identifiziert sich mit ihnen,
er schlüpft in deren Haut und ist selber einer von ihnen
auf dem Boot als schwarzer Flüchtling,
in dem Gefängnis als politischer Häftling,
in dem afrikanischen Dorf als vergewaltigte Frau,
auf der Straße als Bettler,
in dem Elendsviertel als hungriges Kind.
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und
Schwestern, das habt ihr mir getan.“
Liebe Schwestern und Brüder,
heute am Tag des Gedenkens an die Toten an unseren europäischen
Grenzen
müssen wir uns solche Texte gefallen lassen.
Da geht es in der Tat um Fluch und Segen.
Die Festung Europa verschließt sich
gegen den immer größer werdenden Strom von Flüchtlingen aus
Bürgerkriegsgebieten im Kaukasus, dem Balkan und aus dem
afrikanischen Kontinent.
Nach Gottes Willen gibt es keine 1. 2. und 3. Welt.
Gott hat diese Welt als eine Welt geschaffen
und die Völker in ihr als eine Völkergemeinschaft,
die aufeinander angewiesen sind,
die sich gegenseitig ergänzen und bereichern,
aber nicht abgrenzen und unterdrücken sollen.
Liebe Schwestern und Brüder,
hier geht es neben dem ganz praktischen Handeln auch um eine
Umkehr im Denken, um eine Änderung der Blickrichtung.
Nicht an den Starken, den Reichen, den Mächtigen und Gesunden sollen uns orientieren
Sondern an den Armen, den Unterdrückten, den Verfolgten, den
Kranken.
Für sie soll unser Herz schlagen,
ihnen sollen wir unser Augenmerk widmen
Unsere Empathie, unser Mitgefühl sollen wir für sie wieder wecken.
Und das gilt im Großen wie im Kleinen.
Schauen wir uns um in unseren Familien, in unseren Freundeskreisen,
auf unserer Arbeitstelle,
dann werden wir überall solche Verlierer, solche Unglücklichen
finden, die unsere Solidarität nötig haben.
Schauen wir uns um in unserem Land,
dann werden wir feststellen, dass sich eine gefährliche Entwicklung
vollzieht –
die Reichen und Mächtigen nämlich verbünden sich immer mehr
gegen die Armen und Hilflosen.
Eine Sparpolitik, die die Armen zur Kasse bittet und die Reichen
verschont, ist skandalös.
Eine Sparpolitik, die den Hartz IV-Empfängern schon lange das
Kindergeld vorenthalten hat
und nun auch noch das Elterngeld und die Renteneinzahlung streicht, dagegen aber den Reichen keine Vermögenssteuer abzieht
und auch den Bankgeschäften keine Steuern –
eine solche Sparpolitik ist unmoralisch und menschenverachtend.
„Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich besucht.“
Dieser Text, liebe Schwestern und Brüder,
ist ein Text gegen die Resignation und die Ohnmacht,
denn nichts ist umsonst –
kein gutes Wort, kein Besuch, keine noch so geringe Hilfe ist
umsonst.
Scheint das auch alles wie ein Tropfen auf dem heißen Stein zu sein – nichts gerät in Vergessenheit in dem großen göttlichen Gedächtnis.
Ein jüdisches Sprichwort sagt: Wenn du ein Menschenleben gerettet
hast, so hast du das ganze Universum gerettet.
Laßt uns in diesem Sinne empathisch sein,
wehren wir uns gegen die soziale Kälte,
wehren wir uns gegen den Fremdenhass,
wehren wir uns gegen die Hartherzigkeit
und lassen wir wieder die Liebe zu, die Gott in uns eingepflanzt hat.
Diese Liebe, sie will aufblühen in uns wie eine dunkelrote Rose
mit einem betörenden, sinnlichen Duft,
der sich ausbreiten und eindringen will in alle Räume, aber auch mit Stacheln und Dornen gegen alle Versuche, sie zu verletzten oder zu zertreten.
Diesen Duft, aber auch diese Stacheln, das wünsche ich ihnen.
Amen