//

Predigt · Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres · 9. November 2014 · Pfarrerin Ruth Misselwitz

Posted on Nov 15, 2014 in Predigten

Matthäus 14, 22 – 32

Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche anläßlich 25 Jahre Mauerfall

Der Friede Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die
Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen


Liebe Gemeinde der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, liebe
Gemeindemitglieder aus Alt-Pankow, liebe Gäste –
liebe Schwestern und Brüder,


25 Jahre ist es nun her, dass wir in dieser Stadt und in unserem Land
keine Mauer mehr haben.
Das ist ein Grund zur Freude und zur Dankbarkeit.


Überall in Berlin wird das gefeiert,
in Rundfunk, Fernsehen und Presse ist es seit Wochen das Thema
Nr. 1.
und wir hören und sehen die Geschichten von damals,
von dieser wundersamen Nacht vom 9. zum 10. November.


Die Ereignisse im Jahre 1989 überschlugen sich von Beginn an bis zu
seinem Ende.
Hier seien nur einige wenige Stationen genannt.


Am 13. Februar 1989 wurden die 12 Texte der ökumenischen
Versammlung in Dresden der Öffentlichkeit kundgetan
zu den drei Themen: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der
Schöpfung.
Es war der Abschluss und der Höhepunkt eines jahrelangen Ringens
in den Kirchen um eine gerechte demokratische Gesellschaft,
gegen die zunehmende Militarisierung aller öffentlichen Bereiche
und um den Schutz und den Erhalt der Natur gegen Profitgier und
Ausbeutung.
Diese Texte bildeten die Grundlage für die friedliche Revolution im
darauffolgendem Herbst.
Zum Pfingstfest 1989 versammelten wir uns auf europäischer Ebene
zur 1. europäischen ökumenischen Versammlung in Basel
und stellten fest, dass es in allen osteuropäischen Ländern brodelte
und Aufbrüche gab.


Bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 wurden durch das Mitzählen
der Stimmzettel in unzähligen Wahllokalen in der DDR
Wahlfälschungen festgestellt.
Der Ruf nach Neuwahlen wurde immer lauter.


In Peking wurde ein Volksaufstand auf dem Platz des himmlischen
Friedens brutal niedergeschossen.
Egon Krenz, ein Mitglied der damaligen Regierung der DDR, gab
durch seinen Besuch bei seinen Freunden in Peking sein
Einverständnis für dieses brutale Vorgehen
und drohte auf diese Art all denen im eigenen Land, die auch auf die
Straße gehen wollten, mit der gleichen Härte.


Im Sommer verließen Tausende über Ungarn und die Prager
Botschaft die DDR.


Diejenigen, die blieben, wollten das Land verändern,
aus einer Diktatur eine demokratische und gerechte Gesellschaft
gestalten.


Die ersten Parteien und Bürgerbewegungen gründeten sich im
September und Oktober in Vorbereitung einer demokratischen Wahl.


In Berlin und in Leipzig und in unzähligen Orten der DDR gingen die
Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße.

Das Land war im Ausnahmezustand, niemand wusste wie es
ausgehen wird.


Wir hatten Angst – Angst vor einer bis an die Zähne bewaffneten
Staatsmacht, die sich in bedrohlicher Weise mit bewaffneten Organen
der Armee und der Bereitschaftspolizei auf Straßen und Häusern
postierte,


Angst vor dem Eingreifen sowjetischer Truppen,


Angst vor unbesonnenen und provokanten Handlungen, die zu
katastrophalen Gewaltausbrüchen führen könnten
und alle Hoffnungen mit einem Schlage zunichte machen würden.


Der Wille nach Veränderung aber war stärker als die Angst.


Es gab für uns nur den einen Weg: Keine Gewalt.
Dazu gab es keine Alternative.


„Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam
auf Jesus zu. Er sah aber plötzlich auf den Sturm und die Wellen und
erschrak, da fing er an zu sinken und schrie: Herr, halt mich fest.“


so hörten wir es vorhin in der Lesung aus dem Matthäusevangelium.


Im Rückblick sehe ich uns auch damals auf dem Wasser gehen.


Wir haben uns trotz Sturm und Wellen auf den Weg über das Wasser
gewagt hin zu einem Ziel, das vor uns stand.


Das Ziel war sichtbar und greifbar, ja es kam uns entgegen und
streckte die Hand aus.


Wir als Christen haben dieses Ziel den Schalom Gottes genannt –
den Frieden Gottes, der sich in seinem Reich zeigt
und uns in Jesus Christus nahe gekommen ist.


Wir Christen haben aus den uralten Texten wie dem aus dem Buch
des Propheten Micha, den wir vorhin hörten,
unsere Hoffnungen geschöpft
und den Traum von einem Frieden geträumt, der alle Völker umfasst,
in dem keiner mehr das Kriegshandwerk lernt
und jeder unter seinem Weinstock sitzt, ohne vertrieben zu werden.


Wir haben uns die Freiheit genommen und sind aus dem sicheren
Boot gestiegen hinaus auf die tobende See.
Und es funktionierte, das Wasser unter uns hielt stand.


Zusammen mit allen Menschen, die diese Sehnsucht nach Frieden,
nach Gerechtigkeit, nach Freiheit verspürten, sind wir losgelaufen
und haben uns gegenseitig gehalten – den Blick fest auf das Ziel
gerichtet.


Hätten wir unseren Blick auf den Sturm und die Wellen gewandt, es
wäre uns die Furcht überkommen und wir wären versunken.


Heute nach 25 Jahren wissen wir, wie viele mutige Menschen es gab,
die sich nicht von ihrer Furcht überwältigen ließen
und ihrem Gewissen mehr gehorchten als ihren Vorgesetzten.


Da gab es den ehemaligen Stasioberstleutnant Harald Jäger,
der als diensthabender Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße
in der Nacht vom 9.November den Schlagbaum öffnete.
Er hat nicht die Nerven verloren und auf die immer näher drängende
Menschenmasse schießen lassen,
er hat in einer bemerkenswerten Klarheit selbstverantwortlich und
menschlich gehandelt.

Da haben am Tag vor der Leipziger Montagsdemonstration am 9.
Oktober mehrere Kampfgruppen der Bereitschaftspolizei
und der bewaffneten Organe der Armee
die Entgegennahme von Munition verweigert
mit dem Argument, dass sie nicht auf ihre eigenen Landsleute
schießen werden.


Da gab es auf allen Ebenen in Betrieben, in den Kirchen und in den
Gemeinden
Menschen, die sich mit all ihren verfügbaren Mitteln dafür eingesetzt
haben, dass keine Gewalt angewendet wurde und kein Blut geflossen
ist.


Und nicht zuletzt sei Michael Gorbatschow genannt, der nicht nur in
der DDR auf die Anwendung von Gewalt verzichtete,
sondern auch das osteuropäische Militärbündnis „Warschauer Pakt“
ohne Gewalt aufgelöst hat.
Dafür musste er bitter bezahlen innerhalb und außerhalb seiner
Heimat.
Westeuropa hat ihm das als Schwäche ausgelegt und darauf mit der
Ausdehnung der Nato bis dicht an die Grenzen Russlands
geantwortet.


Liebe Schwestern und Brüder,
wir haben damals vor 25 Jahren erlebt, dass Gott seine Hand über uns
und unser Land gehalten hat.
Er hat uns bewahrt in all den Gefahren und Abgründen, die uns
umgaben.


Dafür dürfen wir von Herzen dankbar sein.


Heute wünschte ich mir wieder mal einen Bruchteil von diesem Mut
und Gottvertrauen, der uns damals über das Wasser hat laufen lassen.


Haben wir noch das Ziel – Jesus Christus – vor uns?
Was ist aus unseren Visionen geworden, den Visionen von einer
gerechten, einer friedlichen Welt?


Wir erleben ein immer weiteres Auseinanderdriften von Arm und
Reich in unserem Land und auf dieser Erde.


Die Welt ist nicht friedlicher geworden,
sondern immer mehr Kriegs- und Krisenherde entstehen um uns
herum
und Flüchtlingsströme scheitern an der neuen Mauer, die wir um
Europa herum gebaut haben.


Und die Natur wird nach wie vor erbarmungslos ausgebeutet,
weil Profit und Wachstum unsere modernen Götter sind.


Es ist an der Zeit, dass wir Christen wieder aufwachen,
Dass wir unser sicheres Boot wieder ein mal verlassen
und uns auf das Wasser wagen.


Heute ist der Frieden in Europa wieder stark gefährdet durch den
Konflikt zwischen Russland und der Ukraine.
Aus den Erfahrungen von damals wissen wir, wie wichtig es ist,
sich mit den Gegnern – den Feinden – an einen Tisch zu setzten und
zu verhandeln.


Die Aufgabe unserer Kirche könnte auch in diesem Konflikt wieder
sein, als Vermittlerin zu arbeiten –
Versöhnungsarbeit zu leisten zwischen den feindlichen Parteien.


Dazu hat uns Christus berufen – das soll unser Ziel sein.
Dafür haben unsere beiden Gemeinden auch das Nagelkreuz erhalten.


Jesus steht vor uns und weist uns den Weg.

Und wenn uns im Angesicht der Wellen und Stürme die Furcht
überkommt und wir in unserer Angst zu versinken drohen,
dann dürfen wir rufen: Herr, halt mich fest
und er wird uns die Hand reichen.


Dieses haben wir damals erlebt und das werden wir auch in Zukunft
erleben, wenn wir ihn, den Gott unserer Väter und Mütter nicht aus
den Augen verlieren.


Amen.