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Predigt · 500 Jahre Reformationsjubiläum · 31.Oktober 2017 · Pfarrerin i.R. Ruth Misselwitz

Posted on Nov 20, 2017 in Predigten

Matthäus 10, 26-33

Liebe Festgemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
nun ist es so weit, wir haben den 31. Oktober 2017 erreicht,
den Tag, an dem der Überlieferung nach,
die Reformation vor 500 Jahren begann
mit dem Anschlag der 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg.


Wir haben uns in der Kirche und auch hier in der Gemeinde lange
darauf vorbereitet.
Unzählige Veranstaltungen hat es im letzten Jahr gegeben –
Theaterstücke, Cabarets, Oratorien, Filme, Gottesdienste
und nicht zuletzt die Kirchentage im Mai diesen Jahres.


Auch wir haben diesen Kirchentag gefeiert mit einem großen
Programm.
Es gab es ein musikalisches Schauspiel über die Tischreden der
Katharina Luther
und wir feierten mit unseren katholischen Schwestern und Brüder
einen ökumenischen Gottesdienst mit einem gemeinsamen
Abendmahl. Das war ein beeindruckendes Erlebnis.


Wir haben über die Licht- und die Schattenseiten unseres
Reformators Martin Luther nach gedacht –
über seine Teufelsangst, seinen Hass gegen die Juden,
seinen Verrat an die Bauern und an die Wiedertäufer,
seine Bereitwilligkeit, sich eher unter den Schutz eines Landesfürsten
als unter den Schutz eines Bischofs zu stellen,
was dann zur Folge hatte, dass es in der protestantischen Kirche zur
unheiligen Allianz zwischen Thron und Altar führte,
die bis heute noch ihr Unwesen treibt.


Auf der anderen Seite aber haben wir auch seinen Mut und seine
Glaubensgewissheit bewundert,
die die engen Klostermauern sprengte,
sich in das Weltgeschehen einmischte,
die Grundfesten der Kirche und der Gesellschaft ins Wanken brachte
und eine Freiheit entfachte, die so manchem das Fürchten lehrte.


Die erstarrten Machtstrukturen der Kirche,
die fehlende Bereitschaft der Fürsten und Könige, auf die
Herausforderungen der Zeit zu reagieren,
das verbissene Festhalten an der Macht und an der Deutungshoheit,
die Furcht vor Veränderung und das ängstliche Beharren auf das
Altbewährte und Bekannte
brachte eine ganze Gesellschaft mitsamt ihrem Klerus zum
Einstürzen.
Die Folge davon war auf der einen Seite ein enormer Gewinn an
Freiheit, Selbstbestimmtheit, allgemeiner Bildung und Individualität.


Auf der anderen Seite aber auch ein tiefer Riss innerhalb der
christlichen Kirche.
Ein erbitterter Kampf gegeneinander entstand nun.
Beide Seiten – Katholiken und Protestanten – ließen sich
instrumentalisieren und verbündeten sich mit den jeweils befeindeten
machtpolitischen Kräften,
die Europa im 30-jährigen Krieg in Blut und Chaos stürzten.


Hundert Jahre nach der Reformation wurde dann der Friedensvertrag
zwischen den befeindeten Parteien geschlossen
und die Anerkennung der Religionsfreiheit wurde auf europäischem
Boden ausgerufen –
uns bekannt als „Westfälischer Frieden“.


Ein Vorbild für kommende Friedensverträge bis zum heutigen Tag.


Die Spaltung der Kirche aber haben wir bis heute nicht überwunden,
wobei wir uns allerdings heute – Gott sei Dank – schon sehr viel näher sind als z.B. vor 100 Jahren.


Was aber war der Grund für dieses gesellschaftliche Erdbeben?


Liebe Schwestern und Brüder,
neben vielen politischen, ökonomischen, strategischen,
geopolitischen und kulturellen Gründen, die das damalige Europa
bewegte,
gab es für Martin Luther am Anfang nur einen Grund –
das war die Bibel.


Beim intensiven Studium dieses Buches hat er einen Gott kennen
gelernt, den er nicht mehr fürchten musste,
dem sich alle Mächte beugen mussten – die guten wie die bösen,
der dem Menschen ganz nah und liebevoll,
aber auch unendlich fern und unbegreiflich sein kann,
der am Ende sich im Menschen Jesus unter die Menschen mischte,
um sie vollends zu verstehen und ihnen seine Liebe zu zeigen.


Und der dafür jämmerlich am Kreuz endete, weil die Menschen so
einen Gott nicht wollten und nicht verstanden.


In Jesus zeigte sich Gott ganz schwach und hilflos,
angewiesen auf die Liebe und Fürsorge einer Mutter und eines Vaters,
er zeigte sich als verlässlicher Freund und kompetenter Lehrer,
als hingebungsvoller und liebender Heiland, der Kranke heilt und
Gestrauchelte wieder aufrichtet.
Er zeigte sich als Prophet, der die Würde der Entrechteten wieder
herstellt und die Gewalt der Herrschenden anprangert.
Er zeigte sich als einer, der Gewalt erleidet, aber nicht mit Gewalt
antwortet.
Er zeigte sich als einer, der einen schrecklichen Tod erleiden musste,
aber den Tod überwunden hat,
weil er stärker ist als der Tod,
stärker als alle Mächte des Himmels und der Erden.
Dieser Gott gab Martin Luther die Kraft, beim Reichstag zu Worms
sich vor den Kaiser zu stellen und zu sagen:
„Hier stehe ich und kann nicht anders.“


So wie Generationen vor ihm und nach ihm aus den Worten Jesu die
Kraft nahmen, aufzustehen und zu widerstehen,
wo die Würde des Menschen verletzt wird,
wo sich Menschen zu gottgleichen Wesen überhöhen und sich
zwischen dem Gläubigen und Gott stellen,
wo Gewalt und Hass das Leben zerstört.


„Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele
nicht töten können…. keiner von den kleinen Sperlingen fällt ohne
euren Vater auf die Erde. Ja selbst eure Haare auf dem Kopf sind alle
gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele
Sperlinge.“


Diese Worte spricht Jesus zur verängstigten und verfolgten
Jüngerschar zu Beginn der Jesusbewegung.


Diese Worte lesen oder lassen sich vorlesen all jene,
die sich nach Freiheit, nach Frieden, nach Gerechtigkeit, nach
menschenwürdigen Verhältnissen sehnen und sich dafür einsetzten.


Die Botschaft Jesu gilt heute noch genauso wie vor 2000 Jahren,
sie hat ihre Wurzeln in den alttestamentlichen Visionen und
Prophezeiungen
und sie gilt allen Menschen gleichermaßen
unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Kultur.


Wer die Würde eines Menschen beschädigt, verstößt gegen das
ureigenste Anliegen der Reformation

Liebe Schwestern und Brüder,
wenn wir heute danach fragen, ob und wenn ja, welche Bedeutung
die christlichen Kirchen denn noch haben, dann kann die Antwort
nur sein:
Ja, sie haben genau in diesem Anliegen ihre Bedeutung,
für Frieden und Gerechtigkeit einzustehen und die Würde des
Menschen vor allen Angriffen zu schützen.


Sie haben die Stimme der Armen und an den Rand Gedrängten
hörbar zu machen,
doch dabei keineswegs die Stimme der Gewalt und der Ausgrenzung
zu übernehmen.
Nein, die Kirche hat sich nicht an die Seite der Hass- und
Gewaltprediger zu stellen, die nach Abschottung und Schließung der
Grenzen ruft.


Liebe Schwestern und Brüder,
die Welt hat sich in den letzten 500 Jahren grundlegend verändert.


Hat sich damals Martin Luther noch unter den Schutz von kleinen
nationalen Landesfürsten stellen können,
so ist die Welt heute nur noch in ihrer Gesamtheit zu verstehen.


Die globalen Beziehungen und Abhängigkeiten verknüpfen die
Menschheit wie durch ein dichtes Netz.


Verfolgt man den Verlauf der Fäden in diesem Netz, so wird man
überall Verbindungen und Schaltstellen finden,
die die Ereignisse in der Welt miteinander verknüpfen.


So wird ein Bürgerkrieg am anderen Ende der Welt seinen Fadenlauf
bis zu uns nach Europa, nach Deutschland finden.
Bei einer Dürre in Afrika wird man eine Verbindung zu einem
Kohleschornstein in Nordamerika finden.
Und bei dem Verlauf von Flüchtlingsströmen wird man überall
Schaltstellen und Querverbindungen finden.


Wir leben in einer dicht vernetzten globalisierten Welt, in der
nationale Grenzen und Mauern keine Sicherheit mehr bieten.


Wir können nur gemeinsam überleben
und nur gemeinsam diese unsere Erde vor der Zerstörung bewahren.


Reformation heute bedeutet, sich wieder auf die Weihnachtsbotschaft
der Engel zu besinnen, die da heißt:
Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.


Reformation heute bedeutet, die Freiheit eines Christenmenschen
wieder neu zu entdecken,
sich ohne Furcht und Bangen auf die Herausforderungen der Zeit
einzulassen und vor Veränderungen nicht zurückzuscheuen.


Religionsfreiheit – damals so hart und blutig erkämpft –
bedeutet heute nicht nur die gegenseitige Anerkennung der
christlichen Konfessionen, sondern darüber hinaus auch die
Anerkennung der anderen Religionen.


Es wird sich vieles verändern –
wir werden einiges verlieren, anderes hinzugewinnen –
so ist der Lauf der Zeit.


Aber bei alledem dürfen wir, die wir uns Christen nennen,
unseren Grund und unsere Hoffnung,
die Botschaft Jesu Christi von der Menschenfreundlichkeit Gottes,
nicht aus den Augen verlieren.


Aus ihr leben wir, in ihr sterben wir, durch sie werden wir von den
Toten auferstehen. Amen.