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Predigt · 2. Sonntag nach dem Christfest · 5. Januar 2020 · Pfarrerin i.R. Ruth Misselwitz

Posted on Jan 10, 2020 in Predigten

Lukas 2, 41 – 52

Liebe Schwestern und Brüder,

ein neues Jahr hat begonnen, wir haben alles soweit überstanden,
die besinnliche oder auch hektische Vorweihnachtszeit,
den Heiligen Abend, Silvester und die ersten Tage des Neuen Jahres.
Nun machen wir die ersten vorsichtigen Schritte in das neue Jahr und
schauen noch einmal zurück auf die Feiertage, die bei dem einen ein
warmes Gefühl hervorrufen, bei der anderen aber auch eine
Sehnsucht zurücklassen, weil das kindliche Glücksgefühl
unweigerlich vorbei ist.


Das Weihnachtsfest ruft in uns Bilder aus der Kindheit hervor,
die bei den meisten wohl in angenehmer Erinnerung geblieben sind.
Nicht von ungefähr wird dieses Fest auch das „Fest der Familie“
genannt..
Die idyllische Symbiose zwischen Mutter und Kind, die das Symbol
von Geborgenheit schlechthin ist, übersteht auch unbeschadet einen
zugigen Stall mit Ochs und Esel.


Solange das Kind sich vertrauensvoll der mütterlichen Fürsorge
unterordnet und die Mutter in Liebe sich des Kindes annimmt,
ist die Welt in paradiesischer Ordnung.


Wird das Kind aber erwachsen, löst es sich aus den fürsorglichen
Armen der Eltern und fängt an, seine eigenen Wege zu gehen.
Der schmerzliche aber notwendige Ablösungsprozess beginnt.


Über den Ablösungsprozess Jesu von seinen Eltern erzählt der
heutige Predigttext.
Wir hörten ihn vorhin in der Evangeliumslesung.


Für eine fromme Familie gehörte es sich, zu den hohen jüdischen
Festen nach Jerusalem zu pilgern.
Das Passahfest – die Erinnerung an die göttliche Befreiung aus dem
Sklavenhause, war das höchste jüdische Fest
und verlangte von den Gläubigen, fröhlich Mühen und Plagen auf
sich zu nehmen und nach Jerusalem zu pilgern.
Dieses geschah in der Regel in großen Trossen, die sich oft in
tagelangen Fußmärschen von allen Himmelsrichtingen auf Jerusalem
zubewegten.
Unter ihnen, aus dem nördlichen Galiläa kommend, war auch die
Familie Jesu zu finden, die umgeben war mit dem vollständigen
Familienclan.


Die ganze Festwoche verbringt die Familie in Jerusalem und wir
spüren wohl einen Hauch von dem, was sich in Jerusalem abspielte,
denken wir an die betörenden Gerüche orientalischer Gewürze,
an die fröhlichen Klänge umherziehender Musikanten und Gaukler
und an die aufdringlichen Rufe der Verkäufer, die ihre Ware den
Pilgern aufschwatzen wollen.
Der zwölfjährige Jesus, an der Schwelle zwischen Kind und jungem
Mann, wird wohl fasziniert gewesen sein von der goldenen Stadt
Jerusalem.
Sein Heimatdorf Nazareth, im unwirtlichen Galiläa gelegen, erscheint
angesichts dieser tobenden Stadt wie ein einstmals liebgewordener
Rock, der vor Regen und Kälte geschützt hat, nun aber zu klein und
hinderlich bei alle Bewegungen geworden ist.


Der Tempel zieht den jungen Jesus magisch an.
Er hat das Alter erreicht, in dem er nach dem Grund aller Dinge fragt.


Die Fragen der Jugendlichen sind klar und schonungslos,
sie erwarten aufrichte und eindeutige Antworten.
Auf der einen Seite wird alles hinterfragt, weil alles erst selbst erobert
werden muss,
auf der anderen Seite ist das Bedürfnis groß, sich einer Leitfigur anzuschließen, die Orientierung verspricht.


Wie leicht geraten Jugendliche in diesem Suchprozess in die falschen
Hände, wie schnell können sie verführt werden.


In diesem Alter werden die Weichen gestellt,
es ist der Kampf um die eigene Identität, der einhergeht mit dem
Festhalten wollen auf der einen Seite und dem Sich-befreien-wollen
auf der anderen.
Wer Kinder im Alter zwischen 13 – 17 Jahren hat, weiß, was sich hier
abspielt.


Der wissensdurstige Jesus fragt und hört zu.
Antworten kann er auch schon geben, die Schriftgelehrten wundern
sich über seine klugen Antworten.
Und in seinem Eifer, alles zu fragen und zu hören, treten Zeit und
Stunde völlig in den Hintergrund,
ja sogar die bisher nie überhörte Warnung der Eltern, doch ja zur
rechten Zeit zu Hause zu sein, bleibt diesmal unbeachtet.


Es ist der Tag der Heimkehr.
Die Pilger bauen ihre Zelte ab , sammeln Kinder und Tiere
zusammen und machen sich auf den Heimweg.
Dass der Sohn Jesus nicht unter ihnen ist, fällt zunächst gar nicht auf.
Maria und Josef vermuten ihn unter den vielen Kindern und
Jugendlichen, die sich zwischen der großen Verwandschaft bewegen.
Schließlich achten alle aufeinander und wenn ein Kind fehlt, wäre
das schon gemeldet worden.


Doch nichts von alledem.
Am Abend erst fällt den Elten auf, dass sie ihren Sohn Jesus verloren
haben.
Von Angst und Sorgen gepackt machen sie sofort kehrt und beginnen
die mühevolle Suche nach dem Kind.
Drei Tage suchen sie.
Das sagt sich so leicht hin, aber was für eine Pein müssen beide
ausgestanden haben in dieser brodelnden Stadt.


Hören wir heute von Eltern, die ihre entlaufenden Kinder in einer
Großstadt suchen, dann bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon,
in welchen Ängsten die Eltern Jesu waren.
Wie viele Gefahren lauern in der Großstadt auf einen Jungen, der
vom Dorf kommt.


Ein besonders frommes Kind scheint Jesus nicht gewesen zu sein,
denn im Tempel suchen sie ihn erst ganz zum Schluss.
Am 3. Tag finden sie ihn an diesem heiligen Ort zwischen den
Schriftgelehrten sitzend, wo er diese mit seinen klugen Fragen in
Erstaunen setzt.


„Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich . Und seine Mutter sprach
zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das angetan? Siehe dein Vater
und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“
Der ganze Schmerz bricht aus Maria heraus, drei Tage der Angst und
Pein machen sich in dem mütterlichen Geschrei Luft.


„Wie konntest du uns das antun?“ Eine tausendfach wiederholte
Frage besorgter Eltern an ihre sich ablösenden Kinder.
„Denkst du gar nicht an uns? Wie kannst du nur uns gegenüber so
rücksichtslos sein? Weißt du denn nicht, dass wir vor Sorge vergehen,
wenn du einfach wegbleibst, ohne uns zu informieren?“ –
Fragen die jeder kennt, der Kinder in diesem Alter hat.
Und die Antwort Jesu ist auch so typisch: „Warum habt ihr mich
gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines
Vaters ist?

Die empörte und völlig verständnislose Antwort eines Jugendlichen
auf die übertrieben Sorgen der Eltern.


„Wie oft habe ich euch gesagt, dass ihr euch keine Sorgen machen
müsst, wenn ich spät nach Hause komme, mir passiert doch nichts.
Warum soll ich euch ständig sagen, wo ich hingehe, das ist doch
meine Sache.“ –
Antworten die jede kennt, die Kinder in diesem Alter hat.


Doch mit dem zweiten Teil der Antwort entzieht sich Jesus gänzlich
der Autorität der Eltern:
„Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?


Jesus ordnet sich nun nicht mehr dem leiblichen Vater unter, der nach
patriarchalem Gesetz das unantastbare Familienoberhaupt ist.
Jesus begibt sich in Beziehung zur höchsten Autorität – zu Gott
und befreit sich damit von aller menschlichen und patriarchalen
Bevormundung.


Der Evangelist Lukas, der diese Geschichte aufgeschrieben hat,
versucht diesen Tatbestand theologisch zu deuten, indem er Josef die
leibliche Vaterschaft ohnehin abspricht,
obwohl in Jesu Stammbaum Josef es ist, über den die davidische
Abstammung definiert wird.
Josef bleibt in der ganzen Geschichte unseres Predigttextes stumm.
Es zeugt von seiner Größe. dass er den Sohn nicht zurechtweist und
versucht, ihn zu unterwerfen.
Aber von nun an wird er von Lukas kein einziges mal mehr erwähnt.
Entsprach er nicht den Vorstellungen eines Mannes, der sich
Autorität zu verschaffen weiß, war er zu weich, zu sensibel, als dass
er für würdig befunden wurde, in die weitere Geschichte mit
aufgenommen zu werden?
Was ist aus Josef geworden?
Spekulationen über diese biblische Figur gibt es unzählige, aber keine
befriedigenden Antworten.
Wie dem auch sein – Josef tritt als patriarchales Oberhaupt von der
Bildfläche ab, übrig bleibt einzig die Beziehung zur Mutter.


Und diese ist anfangs recht spannungsgeladen, entwickelt sich aber
dann zu einer hingebungsvollen, am Ende sogar aufopfernden Liebe
zwischen Mutter und Sohn.


Maria als die Mutter schlechthin – was ist aus dieser Frau durch die
Jahrtausende hindurch gemacht worden.
Aus dem armen Bauernmädchen wurde die strahlende
Himmelskönigin.
Aus der sich sorgenden, eifersüchtigen, mitunter auch keifenden
Mutter wurde die milde, selbstlose, alles verzeihende Frau gemacht.


Vieles, was uns an der himmlischen Jungfrau fremd bleibt,
fasziniert uns hingegen an der irdischen Maria.


Mit der Mutter hat der Sohn bis zu seinem Tode und darüber hinaus
eine innige Beziehung.
Unter großen Schmerzen gibt sie ihn aus der mütterlichen Fürsorge
frei,
vollzieht keinen Bruch als er Wege geht, die kaum einer mehr
verstehen kann,
nimmt Anteil an seinem Leben, verlässt ihn selbst unter dem
schmachvollen Tod am Kreuz nicht und wird am Ende tausendfach
belohnt durch den auferstandenen Christus, der den Tod überwunden
hat.


Liebe Schwestern und Brüder,
die Geschichte vom 12-jährigen Jesus im Tempel ist, so will mir
scheinen, eine Geschichte voll aus dem Leben gegriffen.
Es ist eine Ablösungs- und Befreiungsgeschichte, die mit viel
Schmerzen einhergeht, aber um so größeren Gewinn am Ende bereit hält.


Jesus befreit sich aus allen menschlichen Bevormundungen,
er unterstellt sich allein der göttlichen Autorität.


Seine Beziehung aber zu den Menschen, die ihn umgeben,
einschließlich seiner Mutter, sind von Achtung und Liebe geprägt,
von Verantwortung und Fürsorge.


Die Wahrung der eigenen Identität, die Freiheit und die Würde eines
jeden Menschen aber sind Merkmale einer Gemeinschaft, die sich in
Jesu Nachfolge begibt.


„Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“ – so sagt es
der Apostel Paulus.


Gebe Gott uns die Kraft, Menschen in die Freiheit, in die eigene
Verantwortung loszulassen, unsere Kinder und unsere Liebsten,
unsere Freunde und Arbeitskollegen


und schenke er uns die Gelassenheit, in seine Kraft zu vertrauen.
Amen.