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Predigt · 2. Sonntag nach dem Christfest · 3. Januar 2010 · Pfarrer Lorenz Wilkens

Posted on Jan 20, 2010 in Predigten

1. Johannes 5, 11 – 13

Und dies ist das Zeugnis, daß Gott uns ewiges Leben gab; und dies Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer Gottes Sohn nicht hat, hat das Leben nicht. Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wißt, daß ihr ewiges Leben habt, da ihr auf den Namen des Gottessohnes vertraut.

D E V I T A A E T E R N A

Liebe Gemeinde,

was ist ewiges Leben? Wie sollen wir darüber denken, wie können wir es uns vorstellen? Es scheint, wir können es uns überhaupt nicht vorstellen; der Gedanke greift über das Gebiet des Vorstellbaren hinaus. Die Ewigkeit ist das Gegenteil der Zeit. Doch alle unsere Vorstellungen sind an die Zeit gebunden. Alles, was ist, unterliegt der Zeit, hat Anfang und Ende. S e i n bedeutet Sein in der Zeit. Auf der anderen Seite ist nicht zu bestreiten, daß man den Begriff der Zeit im Gedanken verneinen kann. Man kann fragen: Wie wäre die Welt beschaffen, wenn es keine Zeit gäbe? Das kann auch kein leerer Gedanke sein, denn es gibt ein Motiv zu dieser Frage; es kommt aus dem Leben: Zum Leben gehört der Wunsch, daß es ‚bleibe‘, daß die Erfahrung nicht beständig durch den Seitenblick auf seine Endlichkeit relativiert werde. Das Lied: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“ ist albern; darin ist weder Ernst noch Trost. Den Glücklichen kränkt man durch den Hinweis auf die Endlichkeit der Erfahrung ebenso wie den Unglücklichen. Beide benötigen Zeit, um zu ermessen, was ihre Erfahrung für sie bedeutet, wie ihr Leben dadurch verändert wird. Und man soll diese Zeit nicht voraus bemessen.


Zum Leben gehört der Wunsch, daß es ernst genommen und nicht durch den mechanischen Hinweis auf seine Endlichkeit relativiert wird. Denkwürdig fügt sich dazu eine sprachliche Beobachtung: Das deutsche Wort ‚ewig‘ bedeutet ursprünglich nicht ‚zeitlos‘; es ist von dem Substantiv *aiwi abgeleitet, das so viel wie ‚Fülle der Zeit‘ bedeutet. Es ist verwandt mit dem griechischen Wort für ‚Ewigkeit‘, aiôn, sowie dessen lateinischer Entsprechung aevum. Alle drei Substantive aber kommen von einer indoeuropäischen Wurzel *aiu her, welche ‚die Lebenskraft‘ bedeutet. ‚Ewigkeit‘ bedeutet demnach ursprünglich die Qualität des richtigen Lebens, des Lebens, das sich annimmt und mit sich im reinen ist. Es ist das Leben, das keinen Grund hat, sich beständig auf sein Ende zu
verweisen, um sich von der Frage, warum es nicht gelinge, zu
entlasten.


Nun gehört zu unserer Tradition die Annahme, die Sinnlichkeit
und ihre Objekte seien endlich und mithin unrein, der Geist
aber und was er allein erfasse, sei unendlich, zeitlos und
daher rein. Diese philosophische Auffassung wurde von Platon
begründet. In dem von ihm verfaßten Dialog „Phaidon“
beschreibt er, wie Sokrates am Abend seiner Hinrichtung – er
ist wegen angeblicher Gottlosigkeit und Verderben der Jugend
zum Tode verurteilt worden – seinen bevorstehenden Übergang in
das Reich des unsterblichen Geistes mit Vorfreude bedenkt:
„Wenn es nicht möglich ist, mit dem Leibe irgend etwas rein zu
erkennen, so können wir nur eines von beiden, entweder niemals
zum Verständnis gelangen oder nach dem Tode. Denn alsdann wird
die Seele für sich allein sein, abgesondert vom Leibe, vorher
aber nicht. Und solange wir leben, werden wir … nur dann dem
Erkennen am nächsten sein, wenn wir soweit wie möglich nichts
mit dem Leibe zu schaffen noch gemein haben, was nicht höchst
nötig ist, und wenn wir mit seiner Natur uns nicht anfüllen,
sondern uns von ihm rein halten, bis der Gott selbst uns
befreit. Und so rein, der Torheit des Leibes entledigt, werden
wir wahrscheinlich mit ebensolchen zusammen sein und durch uns
selbst alles Ungetrübte erkennen, und dies ist eben wohl das
Wahre.“1 Der Tod ist demnach eine Bedingung der Begegnung mit
dem Wahren.

Liebe Schwestern und Brüder, und dies ist entschieden
n i c h t die Meinung des Autors unseres Predigttextes. Nicht
der Tod ist die Bedingung der Begegnung mit dem Wahren,
Bedingung des wahren Lebens, sondern wer Jesus ‚hat‘, der hat
das ‚ewige‘ Leben – das Leben, das nicht von dem Verweis auf
die Endlichkeit getrübt und herabgesetzt, geschwächt und
gelähmt wird. Entscheidend ist dabei die Bestimmung, daß Jesus
der „Sohn Gottes“ sei. Wer dem Namen des Sohnes Gottes
vertraut, hat das Leben. Nach der Tradition der Johannes-
Gemeinde, zu der unser Text gehört, bedeutet dieser Name: „Das
Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Ioan 1, 14). Das
‚Wort‘, das ist die Kraft und der Wille der Schöpfung, das ist
Gottes Sache, und sie ist in einem Menschen erschienen, in
Jesus. Man kann entgegnen, die Schöpfermacht Gottes äußere
sich doch in jedem seiner Geschöpfe, in jedem Naturding, jedem
Lebewesen. Das ist richtig, aber gemeint ist, daß sie sich in
Jesus besonders deutlich und rückhaltlos geäußert habe, so daß
man durch Verbindung mit ihm dem ‚ewigen Leben‘, dem Leben
samt seiner schöpferischen Herkunft, Gott selbst, am
‚genauesten’2 am verläßlichsten verbunden werde.

Dadurch werden zwei Meinungen über den Tod entkräftet: Erstens
ist der Tod keine unüberwindliche Relativierung und Entwertung
des Lebens. „Wer den Sohn hat, hat das ewige Leben“ – und zwar
schon im irdischen Leben, denn schon darin kann man „den Sohn
haben“ und „auf seinen Namen vertrauen“. Zweitens ist der Tod
nicht, wie Platon hielt, der Eintritt in das wahre Leben und
seine Bedingung. Denn die Wahrheit des Lebens liegt nicht beim
reinen Geist, sondern bei dem Sohn, in der Inkarnation, d. h.
‚Fleischwerdung‘ des Schöpfungswortes.

Liebe Gemeinde, mithin ist eine dritte Lehrmeinung hinfällig,
die besagt, daß die Aussicht auf ein ewiges Leben nach dem
Tode als Trost, als Vertröstung gebraucht werde. Diese Meinung
wurde von der Religionskritik des 18. und 19. Jahrhunderts,
besonders von Marx, gegen den christlichen Glauben
vorgebracht. Sie traf wohl eine seiner Verzerrungen, nicht
aber seine wahre Gestalt. Denn wer „den Sohn hat“, für den hat
der Tod seine Macht verloren. Der Tod ist nicht mehr der
„Satan“, d. h. Ankläger und Verleumder des Lebens. Das kann
nur bedeuten: Von Jesus muß eine Wirkung auf die natürliche
Angst vor dem Tod und auf unsere Versuche ausgehen, mit ihr
fertig zu werden. Sie hört nicht auf; sie k a n n nicht
aufhören, denn sie ist ein Teil unserer Natur; sie s o l l
nicht aufhören, denn sie ist ein Teil unserer Treue zum Leben,
mithin Treue zu Gott. Aber sie hört auf, Schuld- und
Strafangst zu sein. Daß ich sterben werde, bedeutet nicht den
Widerruf des Rechts meines Lebens, auch nicht des Rechts der
Art, wie ich es geführt habe. Gott selbst hat in Jesus den Tod
auf sich genommen, und er konnte dadurch nicht widerlegt
werden. Jesus hat bewiesen, daß der Tod nicht notwendigerweise
einen Abtrag von der Liebe zum Leben, die allein Treue zu Gott
ist, mit sich bringen muß. Daher wird durch die Erinnerung an
Jesus die Liebe zum Leben vertieft. Mehr Weisung benötigen wir
nicht. „Der Blick nach drüben“ mag „verrannt“ sein, wie Faust
sagte, allein wir brauchen ihn nicht. Er soll uns nicht
ablenken von dem Nachdenken über unser Leben, von der Suche
nach den Spuren der Liebe Gottes darin. Diese Suche sind wir
ebenso unseren Mitmenschen wie uns selbst schuldig. Denn jeder
Mensch soll für seine Mitmenschen die Ermutigung zum Leben
bedeuten. Dazu helfe Gott uns allen. Amen.

1Platon, Phaidon, 66d – 67b, in der Übs. F. Schleiermachers.

2″Ich bin durch der Hoffnung Band zu genau mit ihm verbunden &c.“, EG 526, 3.Strophe.