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Rede am Altjahresabend · 31. Dezember 2022 · Dr. Marie-Anne Subklew-Jeutner

Posted on Jan 1, 2023 in Predigten

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gemeinde.

Das Jahr 2022 liegt vor unseren Augen wie ein aufgeschlagenes, ziemlich abgegriffenes Buch mit 365 Seiten: Beschriebene und zerknickte Blätter. Manche leer, weil es uns die Sprache verschlagen hat oder uns die Kraft zum Schreiben fehlte.  Vielleicht auch beides. Manche Seite voll gekrakelt. Oder mit Klecksen. Seiten mit ausradierten Worten und durchgestrichenen Plänen. 

Wir schauen zurück, sagen wir am letzten Abend des Jahres. So gehen wir durch die Zeiten, hinter uns das Vergangene. Vor uns das neue. In der hebräischen Sprache ist es genau umgekehrt. Dort liegt nicht die Zukunft vor den Augen, sondern die Vergangenheit. Das hebräische Wort für Vergangenheit ist: das, was vor Augen liegt.

Wenn das Vergangene vor Augen liegt, ist Zukunft hinter uns, hinter unserem Rücken. Rücken, rückwärtsgehen und Zukunft sind deshalb in der hebräischen Sprache das gleiche Wort. Was unserem Zeit- und Raumempfinden äußerst fremd erscheint, entspricht aber unserer menschlichen Existenz zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Das Vergangene liegt vor unseren Augen, ich sehe, das was gewesen ist. Die Zukunft dagegen kann ich zwar erhoffen, aber sie ist verborgen, ich kann sie nicht sehen. Mit anderen Worten, das ist der Unterschied zwischen einer Kanutin und einem Ruderer.

Im deutschen Sprachraum oder in unseren Gewässern sind wir Kanuten, vergangene Ufer im Rücken, die unbekannten Ufer vor Augen. Anders, wenn wir im Ruderboot sitzen. Dann haben wir die vergangenen Ufer und Küsten vor Augen, die Häfen, die uns Schutz boten. Wir sehen die steinigen Klippen, wo wir drohten zu stranden. Vor unseren Augen liegen aber auch die lauschigen Buchten, mit ruhigem Wasser und den großen Schatten spendenden Bäumen.

Aber meist waren in diesem Jahr die Wasser sehr unruhig, unsere fragilen Ruderboote schlingerten durch die See und suchten den Kurs durch stürmischen Wasser. Können wir den alten Karten noch vertrauen, die noch vor einem Jahr richtig schienen? Wo sind unsere alten Gewissheiten, die uns die Richtung wiesen? Eines ist in diesem Jahr allerdings deutlicher denn je:  

Zum Frieden gibt es keine Alternative. Kriege sind furchtbar. Immer und überall. Aber leider: Nichts von dem, was in diesem Jahr vor unseren Augen liegt, ist neu. Weder der Krieg, noch die Menschen, die auf der Flucht sind. Immer weinen Eltern um ihre Söhne und Töchter, voller Angst sind die Nächte und Verzweifelung prägt die Tage.

Was ist richtig? Oder gibt es gar kein Richtiges im Falschen? Gibt es immer nur das Balancieren auf dem sehr sehr schmalen Grat des Abwägens, der Verantwortung, des Ermöglichens und gleichzeitig des Verhinderns?  

Es gibt keine leichten Antworten, weil jede Antwort ein Aber provoziert. Wenn ich die Nachrichten nicht mehr ertragen kann und das Radio abschalte oder den Sender wechsele, kommt sofort die innere zweifelnde Aber- Stimme. Sie fragt mich: „Du hörst Klassik, aber was ist mit den vielen Menschen, deren Ohren von Geschützdonner dröhnen?“ Wenn ich der Sprache misstraue, weil sie mir zu kriegerisch und martialisch ist, weil die vielen Imperative mich stören und weil ich weiß, dass auch sprachliche Eskalation eine Eskalation ist, kommt wiederum die innere zweifelnde Aber-Stimme. Sie fragt mich: „was verstehst du denn schon, im sicheren Deutschland mit einer Wohnung, Strom und Heizung? “ Wenn ich mich frage, ob Waffenlieferungen nicht immer das Leid vergrößern, weil sie Kriege verlängern und  zum Töten verwendet werden, kommt sofort die innere zweifelnde Aber-Stimme. Sie sagt zu mir: „ du bist ignorant und zynisch, denn jedes Land hat ein Recht auf Selbstverteidigung und auf die Souveränität seiner Grenzen und auf ein Leben in Freiheit. Wenn ich nicht in den Modus des Hassens verfallen möchte, weil ich weiß, dass der Hass mich selber zerstört und zerfrisst, kommt sofort die innere Aber-Stimme. Sie fragt, ob ich auch so denken würde, wenn in ich Freunde betrauern müsste und meine Söhne an der Front wären? Ich kann diese Liste des inneren Dialoges fortsetzen, jeder Gedanke wird sofort von der eigenen inneren Aber-Stimme in Frage gestellt.

Um in diesem Denkdurcheinander  und  im Gefühlswirrwar meinen Kurs zu finden, suche ich die Geschichten, die vor unseren Augen liegen und davon erzählen, dass, das was ist nicht alles ist, und das was ist nicht immer so bleiben muss?

Ich suche die anderen Worte, die leisen Stimmen, die verbindende Sprache, die das – und wenn auch nur hauchdünne – Haltenetz der Hoffnung aufspannen. Wo ist die Sprache, die – allen Realitäten zum Trotz – nach frisch gebackenem Brot duftet, die nach Vogelstimmen klingt, Worte, die wie die Kerzen auf dem Küchentisch leuchten oder wie ein Kaminfeuer wärmen. Ich finde sie  in den Zwischentönen und Zwischenräumen der Poesie, im Absurden und völlig Unwahrscheinlichen. Ich will „nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten“, so hat es die jüdische Schriftstellerin Hilde Domin einst ausgedrückt und ich borge mir ihre Worte.

Vor meinen Augen liegen die Geschichten, die andere erzählten. Das können ganz alte sein, wie die biblischen Visionen davon, dass die Menschen ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden werden und das jene selig sind, die Frieden stiften.  Oder es sind solche Geschichten wie die von Antoine Leiris, einem sehr jungen französischem Witwer. Am 13. November 2015 wird Paris von Attentaten erschüttert. 132 Menschen werden getötet. Helene Leiris, Mutter eines 17 Monate alten Sohnes und Frau des Journalisten Antoine Leiris ist eines der Opfer. Vier Tage später, fassungslos traurig und schlaflos nachts durch die dunkle Wohnung irrend, findet der Witwer für seine Trauer Worte und Sprache. Er tippt einen kurzen Text in seinen Computer. Ein Klick auf senden und der Text verbreitet sich innerhalb von Minuten weltweit über facebook und wird von hunderttausenden Menschen gelesen. An die Terroristen, Mörder seiner Frau adressiert, schreibt er: „Freitag Abend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Menschen geraubt, dass der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Nein, ich werde euch das Geschenk nicht machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr es darauf angelegt habt; auf den Hass mit Wut zu antworten, würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht habt, was ihr seid. Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt.“

Meinen Hass bekommt ihr nicht, schreibt der Mann, der die Liebe seines Lebens verloren hat. Antoine Leiris hat für sich eine Entscheidung getroffen und für seinen kleinen Sohn. Mich berühren diese Sätze und die dahinterstehende Haltung. Seine Worte durchbrechen die Logik der Gewalt. Antoine Leiris zeigt welche Kraft eine Sprache hat, die stärker ist als alle Armeen der Welt. Dieser Text hat keinen Imperativ, du musst oder du sollst. Es gibt keine Erwartung oder Aufforderung, es ihm gleich zu tun. Es ist nur die leise Sprache eines einzigen verletzten Menschen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,nie verändert sich unsere Sprache wie in Zeiten von Krisen und Kriegen. Das haben Sprachwissenschaftler bewiesen. Und diese Veränderungen sind häufig von Dauer. Aus unseren Worten spricht der Krieg, selbst wenn wir gar nicht daran denken. Der eine hat eine Hustenattacke, die andere steht mit der Gartenarbeit auf Kriegsfuß, der Dritte streckt wegen zu viel Arbeit die Waffen, seine Kollegin hält die Fahne hoch. Wir kämpfen gleichzeitig an allen Fronten. Und abends übergibt die Nachrichtensprecherin an ihren Kollegen: Na, dann schieß mal los mit dem Wetter. Wie wir reden, wirkt sich auch auf unsere Gedanken und Gefühle aus. »Wenn das Denken die Sprache korrumpiert, korrumpiert die Sprache auch das Denken«, hat George Orwell schon 1946 notiert. Es heißt, die Wahrheit ist das erste Opfer im Krieg. Ich sage die Sprache ist die erste Täterin vor einem Krieg.

Der Schriftsteller Stan Nadolny, der ein Roman über die Gabe der Rede und die Rhetorik geschrieben hat, sagt es so: „Die Menschen wollen reden lernen, ohne ihr Leben zu verändern. Und die diejenigen, die ihr Leben verändern wollen, kommen nie darauf, beim Reden anzufangen“. Wir können mit dem Reden anfangen unser Leben zu verändern. 

Der einstmals höchste Politiker der Welt, der zweite UNO-Generalssekretär und Friedensnobelpreisträger, der aus einem schwedischen Adelsgeschlecht stammende Dag Hammarskjöld, war ein Meister der Diplomatie. Er ist der Erfinder der Blauhelm-Truppen und wo es seinerzeit weltpolitisch brannte, da mischte er sich ein. So auch u.a. 1956 in der sogenannten Suez-Krise, als die Welt  den Atem anhielt, denn es bestand die Gefahr eines dritten Weltkrieges. Aber nicht zuletzt seinem Einsatz war es schließlich zu verdanken, dass sich eine friedliche Lösung anbahnte. Dag Hammarskjöld war nicht nur ein begnadeter Politiker, sondern ein zutiefst spiritueller Mensch. Er richtete im UNO-Hauptgebäude in New York einen Raum der Stille ein. In dem kleinen Raum steht in der Mitte ein Block aus Eisenerz. Dazu schrieb Hammarskjöld: „Das Material des Eisenerzsteines lenkt unsere Gedanken auf die Notwendigkeit der Wahl zwischen Zerstörung und Aufbau, zwischen Krieg und Frieden. Aus Eisen hat der Mensch seine Schwerter geschmiedet, aus Eisen hat er aber auch seine Pflugscharen hergestellt. Aus Eisen hat er Panzer konstruiert, aber mit Hilfe des Eisens hat er ebenso auch Häuser gebaut. Der Block aus Eisenerz ist Teil des Reichtums, den wir auf dieser unserer Erde ererbten. Wofür werden wir ihn benutzen?“ soweit D.H. Wie wir diese Frage beantworten werden, wird über unsere Zukunft entscheiden. Dag Hammarskjöld war ein Diplomat, der der Kraft der Worte, der Sprache vertraute. Die Sprache war sein Werkzeug, um in den Konflikten der Welt zu vermitteln, unterschiedliche Positionen zu verbinden und Wege der Deeskalation zu suchen. 

Nach seinem Tod bei einem Flugzeugabsturz am 18. September 1961 über dem Kongo, fand man in seinem Nachttisch sein spirituelles Tagebuch. Es wurde in viele Sprachen übersetzt, der deutsche Titel heißt: Zeichen am Weg. Darin schreibt Hammarskjöld im Jahr der Suez-Krise, im Jahr höchster Kriegsgefahr: „Achtung vor dem Wort ist die erste Forderung in der Disziplin, durch welche ein Mensch zur Reife erzogen werden kann – intellektuell, im Gefühl und ethisch. Achtung vor dem Wort – seinem Gebrauch in strengster Sorgfalt und in unbestechlicher innerer Wahrheitsliebe das ist auch die Bedingung des Wachstums für Gemeinschaft. Das Wort missbrauchen heißt die Menschen zu verachten. Das unterminiert die Brücken und vergiftet die Quellen. So führt es uns rückwärts auf der Menschwerdung langen Weg.“

Wir alle sind politische Menschen, auch wenn wir keine Politikerinnen oder Politiker sind. Deshalb sind wir verantwortlich für unsere Sprache. Ich bin verantwortlich dafür, ob meine Sprache Brücken vermint oder Quellen vergiftet oder ob sie getrenntes verbinden kann. Eine Sprache, die verbindet, braucht den Konjunktiv, die Möglichkeitsform. Konjunktiv kommt vom lateinischen Wort conjungere, was verbinden heißt. Könnte es nicht sein, wenn wir anders miteinander redeten, dass wir Wege fänden, und es mehr Friede gäbe?  Der Konjunktiv ist fragend, suchend und leise. Sprache als Verbindung, als Brücke.

Vor unseren Augen liegt ein ganzes Jahr, manchmal braucht es auch nur ein einziges Wort und wir wissen ganz genau, welches Jahr gemeint ist. Deshalb wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache jedes Jahr ein Wort des Jahres, welches das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Deutschland sprachlich besonders bestimmt hat. In diesem Jahr entschied sich die Jury für das Wort „Zeitenwende“. Das passt, ist es doch tatsächlich eine Zeitenwende. Denn bis zu diesem Jahr war das Wort „Zeitenwende“ zuallererst mit der Geburt von Jesus Christus, dem Friedefürsten, an dessen Geburt wir uns vor einer Woche erinnerten, verbunden. Seit diesem Jahr bedeutet Zeitenwende das Gegenteil von der Friedensbotschaft des neugeborenen Kindes. Das ist tatsächlich eine Zeiten-Wende.

Das vergangene Jahr liegt vor meinen Augen in meinem schlingernden Ruderboot. Die Zukunft kann ich nicht sehen, sie liegt in meinem Rücken. Aber ich kann sie antizipieren. Denn Sprache beschreibt nicht nur das Vergangene, deutet die Gegenwart, sondern kann auch die Zukunft vorwegnehmen. Wenn wir in genau einem Jahr auf das dann vergangene Jahr schauen, hat die Sprach-Jury wieder ein Wort des Jahres 2023 gewählt.

Bereits heute, am letzten Tag alten Jahres, wenige Stunden bevor das neue Jahr beginnt, schlage ich der Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort vor, was für immer mit dem kommenden Jahr verbunden sein soll.  Schließlich werden auf der Website der Jury alle Sprachinteressierten ermutigt, sich an der Sammlung der Vorschläge für das Wort des Jahres zu beteiligen. Der Aufruf endet allerdings mit einem ausdrücklichen Hinweis: „Achtung: Wir können nur Vorschläge berücksichtigen, die eine kurze Begründung enthalten, warum dieses Wort aus Ihrer Sicht als Wort des Jahres besonders geeignet ist.“

Mein Vorschlag für Wort des Jahres 2023 ist deshalb: Wunder

Meine Begründung: Wir alle haben dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hingehalten. Die Waffen schweigen überall und die Menschen auch, wenigstens einen Moment – vor Glück. Geflüchtete kehren heim. Die Menschen sind freundlich zueinander. Diktatoren verlieben sich und verlernen, zu hassen. Frauen haben die gleichen Rechte und das Brot reicht für alle. Es wird gesungen und getanzt. Die Menschen umarmen sich und weinen, flüstern, seufzen, stammeln und jubeln: „was für ein Wunder“.

Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.