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Predigt in der Christvesper · Heilig Abend · 24. Dezember 2022 · Pfr.i.R. Dr. Thies Gundlach

Posted on Dez 29, 2022 in Predigten

Gnade sei mit uns und Friede ….

Liebe Gemeinde,

falls mich jemand fragen sollte, was eigentlich das Heilige an der sog. Heiligen Nacht sei, dann würde ich ihm eine Strophe von Paul Gerhard zitieren aus dem Lied: „Wie soll ich dich empfangen…“ (EG 11, 4); denn in dieser Strophe ist alles gesagt, was es zu sagen gibt über das Heilige in dieser Nacht (Singen?)

„Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los; ich stand in Spott und Schanden, du kommst und machst mich groß, und hebst mich hoch zu Ehren und schenkst mir großes Gut, das sich nicht lässt verzehren, wie irdisch Reichtum tut. „

Gott macht sich klein und anfechtbar, verletzlich wie ein Kind und zerstörbar wie ein Mann am Kreuz. Denn es ist ja mit Händen zu greifen, das Paul Gerhard hier mit einer Art Überblendung arbeitet: das Kind in der Krippe und der Mann am Kreuz, sie gehen ineinander über, weil Gott nicht anders entdeckt werden will: in einem kleinen Kind am Rande der damaligen Welt und als einer der ungezählten Gekreuzigten in der damaligen Welt. Und es ist dieser Gott, von dem es heißt: „Du kommst und machst mich los und groß!“ Das Kind wie der Mann, der Gekreuzigte wie das Neugeborene in der Krippe! Wenn es um Gott und sein Geheimnis in dieser Welt geht, wenn es um das Kind und die Krippe geht, um das Kreuz und sein Leuchten in der Auferstehung, dann geht es ums Großwerden des Menschen, um das Losmachen der Seele aus allen Ängsten und Sorgen. Dann geht es um Freiheit und aufrechten Gang, um eine Würde, die wir haben, auch wenn wir sie hundertmal verraten. Wenn es um Gott geht, werden wir aufgerichtet, nicht kleingemacht, werden wir Freigelassene der Schöpfung. Im Grunde gilt dieser eine Satz als Mitte der Heiligen Nacht und als Mitte jener dunklen Nacht auf Golgatha: Gott macht sich klein, um uns groß und los zu machen!

Leider kennen Sie und ich vermutlich ziemlich viele Menschen, die gar nichts vom Großmachen verstehen, die die andere immer klein machen, die wunderbar präzise kriti­sieren können, die minutiös die schwachen Stellen treffen und niemanden neben sich wachsen lassen können. Eltern, die ihre Kinder nicht loslassen, Partnerschaften, in denen der eine immer definiert, was dem anderen gut tut, Familien, in denen jede Leistung, jedes Können nicht ausreichend ist. Es gibt Mitarbeiterrunden, die sich gegenseitig nur Missgunst kennen, und Freundeskreise, die immer schlecht reden über die, die gerade nicht da sind. Großes, Starkes, Gelungenes neben uns, das ist nicht leicht zu ertragen. Dagegen ist diese eine Heilige Nacht und jene eine dunkle Nacht eine Art göttliche Medizin: Gott macht sich klein, um uns groß und los zu machen!

Denn erschwerend kommt doch hinzu, dass wir mit uns selbst mitunter noch viel strenger umgehen als mit anderen! Dann kann jeder Morgen eine Art Endgericht werden, Tag für Tag steht man vor dem Spiegel und der Daumen dreht sich nach unten. Es gibt Zeiten, in denen wir uns nichts zutrauen und jede Kritik von außen aufsaugen wie Honig. Seit unsere Welt den Glauben an das Endgericht Gottes vergessen hat, ist dieses Endgericht gleichsam zur Hausmacht unserer Seelen geworden, gegenüber uns selbst und gegenüber den anderen. Früher war das Gericht auf das Leben nach dem Leben bezogen, – und das war schon schlimm genug. Heute aber ist es unser täglich Brot, wir sind unsere eigenen Ankläger, Richter und Staats­anwälte, Gewaltenteilung ist unbekannt, wir haben Montags bis Sonntag 10 – 18 Uhr Gerichtsverhandlung – mit einem Hang zu Über­stunden. Deswegen und dagegen: Gott kommt und macht uns groß und los!

Wie macht er das? Wie hebt Gott Dich und mich hoch zu Ehren? Wie schenkt Gott mir großes Gut, das sich nicht verzehren lässt? Ich glaube, das gelingt ihm durch das Staunen, das er uns eröffnet und ermöglicht. Denn mit dem Staunen über Gottes Krippe und Gottes Kreuz werden wir in eine andere Dimension gehoben, gleichsam herausgeführt aus dem Alltag, aus dem Banalem, aus dem Durchschnitt unserer Tage und Jahre, entführt in ein wundersames Auf-Hören (wie der Soziologe Hartmut Rosa formuliert), also einem Unterbrechen und zugleich Hin-Hören auf leise Töne. Und mit dem Staunen spiele ich plötzlich in einer anderen Liga, weit über meiner eigenen Klasse. Nun geht es gar nicht um meine Größe oder Freiheit, um mein Hochheben und mein Aufrecht-Stehen, sondern um einen anderen, fremden Glanz. Ich bin eingezeich­net in ein größeres Ganzes, das nicht von mir abhängt, das ich nicht machen, schaffen und gestalten kann und muss. Ich bin plötzlich  hineingewebt in eine große Geschichte, die mich aufnimmt, ein­lässt, einlädt, eine Schicht des Lebens, das schon vor mir da war und auch nach mir noch sein wird. Im Staunen an Krippe und Kreuz breitet der Seelenvogel seine Flügel aus, die Seele schwingt sich weit hinein in diese Dimension als flöge sie nach Haus. Mein kleines Leben wird zu einem wunderbaren Ton in der unendlichen Symphonie Gottes, zu einer Farbe im Prisma seiner Schöpfungsschönheiten: Dass mich mehr ausmacht als alles, was ich aus mir mache! Dass noch nicht erschienen ist, was ich sein werde. Dass ich Teil eines viel Größeren bin, dass mein Leben geliehen und geborgt ist aus Gottes großer Weite. An Krippe und Kreuz ahne ich für einen Moment, dass ich ein guter Gedanke Gottes bin, ein Unikat seines Universums, hoffentlich auch eine Geste der Liebe in einem ansonsten stummen Kosmos! Was für ein Wunder, was für ein freches, schönes, heiteres, wunder­bares Staunen, was für ein Himmel gespiegelt in der Pfütze meines Lebens. Das Heilige in der Heiligen Nacht? Dass ich staunen kann über mich und dass ich da bin, dass ich lachen und weinen, lieben und leiden kann, dass mein Leben zwar nicht immer leicht, aber doch hell und groß ist, weil auch mein Leben von Krippe und Kreuz anstrahlt ist.

Liebe Gemeinde,

vor einigen Jahren gab es diesen eigentlich zeitlos richtigen und wahren Satz: „Wir werden uns viel verzeihen müssen!“. Heute nach fast einem Jahr Krieg in der Ukraine lautet so ein wahrer Satz vielleicht: „Wir werden uns viel beistehen müssen!“ Denn es wird mühevoller, sorgenvoller, lastenvoller, die fetten Jahre sind vorbei, wie ein Filmtitel vor einigen Jahren lautete. Deswegen geht es auch um unseren Mut, unsere Zuversicht, modern gesagt: um unsere Resilienz oder altmodisch: um unsere Tapferkeit, mit der wir schwierigere Zeiten bestehen, in denen wir auch Nachteile und Einschränkungen bestehen. Doch wenn es um Gott in unserer widrigen Welt geht, geht es ums Wachsen und Groß sein lassen; Gott kommt und macht uns groß und los, bei ihm geht es ums Auferstehen und Aufrecht­stehen, um eine Seele, die wieder aufatmen kann trotz widriger Umstände, um ein Herz, das sich wieder getragen weiß, obwohl es doch auch manches ertragen muss.

Gott aber schenkt uns allen an Krippe und Kreuz solch eine kraftvolle Zuversicht:

Gott sei Dank und Amen