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Predigt · Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr – Volkstrauertag · 13. November 2022 · Pfr.i.R.Dr.Thies Gundlach

Posted on Nov 14, 2022 in Predigten

Liebe Gemeinde,

am Volkstrauertag gedenken wir offiziell der ungezählt vielen zerstörten Leben:

„Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren,

Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer  Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.  …..

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind.

Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz.  …

Seit 1952 Theodor Heuss das offizielle Totengedenken eingeführt hat, werden in der Gedenkstunde im Bundestag diese oder ähnliche Worte gesprochen, jeweils aktualisiert auf den Kummer der Gegenwart. Heute müsste also mindestens der vielen Toten in der Ukraine gedacht werden, aber auch der 1.752 auf der Flucht über das Mittelmeer Ertrunkenen und der vielen unbekannten Toten in der Sahara, auf der Balkanroute und überall. Wir haben allen Anlass, den Volkstrauertag als Totengedenken zu begehen.

Aber: Vieles ist am Volkstrauertag zur Routine geworden, Rituale einer Gesellschaft, die ihre Geschichte nicht vergessen will und darf, die viel Schuld auf sich geladen hat und sich hüten muss, diese zu vergessen oder zu verleugnen. Aber die Frage des Volkstrauertages geht doch weiter: Worüber müsste ein ganzes Volk trauern? Das Wort Volkstrauertag fragt uns nach einem Kummer, den wir als Volk insgesamt und gemeinsam zu tragen und zu ertragen haben. Gibt es dies? Ein Jammer, der uns verbindet über alle Parteien, Telegram-Blasen und Streitigkeiten hinweg?

Ein Weinen, das tiefer geht als meine und deine aktuelle Befindlichkeit? Ein Wehklagen, das weiterreicht als mein Widerspruch gegen diese oder jene Politik, tiefer als diese Wut oder jener Hass gegen „das System“ oder den Kapitalismus.

II.

Trauer, auch Volkstrauer entsteht an der Wahrnehmung einer Unausweichlichkeit, es ist ein Weinen über eine Grundsituation, die man niemanden vorwerfen kann, für die keiner verantwortlich zu machen ist, und die dennoch schwer zu tragen und zu ertragen ist. Volkstrauer entsteht an einer Grundverfassung, die uns alle umfängt und gefangen nimmt, ohne dass wir durch diese oder jene Entscheidung oder Handlung aussteigen könnten. Früher hätte man vielleicht gesagt, es gibt so etwas wie ein gemeinsames Schicksal, ein gemeinsam zu ertragenes Verhängnis, eine Heimsuchung, die unausweichlich ist und alle – wenn auch nicht alle gleichermaßen – belastet. Und Theologie und Kirche hätten von der Erbsünde gesprochen, jenem Verhängnis, die jeder Mensch gleichsam mit seiner Geburt eingefangen hat und sich in den Strukturen widerspiegelt. Auch wenn mit dieser Kategorie Erbsünde viel Unheil angerichtet wurde, in der Sache heißt der Gedanke: Es gibt einen unausweichlichen Kummer, der das Leben beschwert und im Tode kulminiert, ein Jammer, in dem Resignation ebenso liegt wie die Fähigkeit, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann. Manchmal denke ich, nur Suchtabhängige kennen dies noch: bei den AA wird jeden Abend dieses berühmte Gelassenheitsgebet des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr gesprochen: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Können wir das auch? Haben wir diese Gelassenheit, Ereignisse, Entwicklungen und Situationen hinzunehmen, anzunehmen, einzuwilligen und zu akzeptieren, obwohl sie uns nicht gefallen, obwohl sie gefährlich sind, obwohl sie mitunter mit dem Tode bestraft werden?

III.

Liebe Gemeinde, das sind natürlich gefährliche Gedanken, missverständliche Sätze, die immer auch als Aufruf zur Passivität, als Hinweis zum verfrühten Erdulden, als Aufforderung zum Stillhalten missdeutet werden können. Dennoch riskiere ich sie, weil ich glaube, dass uns sonst eine Dimensionen des Menschlichen, der Humanität verloren geht. Denn individuell kennen wir natürlich alle solche Schickungen, solche Zumutungen des Lebens: eine Krankheit, mit der wir leben und vielleicht sogar sterben müssen; eine Trennung oder Scheidung, die wir nicht verhindern können; eine Einsamkeit, aus der wir nicht herausfinden, eine innere Rechthaberei, die wir nicht abstellen können, eine Ängstlichkeit, die wir nicht überwinden können. Ich glaube, je ehrlicher wir mit uns selbst umgehen, desto genauer kennen wir diese Dimension des Schicksals, diese Unabänderlichkeit, die uns traurig macht, weil wir wissen: wir müssen uns damit abfinden. Aber gibt es das auch für ein ganzes Volk, eine ganze Gesellschaft, also nicht etwa nur für das deutsche Volk im Unterschied zu den Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen muslimischen Glaubens, sondern für uns alle zusammen? Worüber müssten wir alle gemeinsam weinen und Kummer tragen ohne Schuldvorwürfe und Handlungsaufforderungen?

Ich riskiere jetzt nicht nur eine missverständliche, sondern auch eine dicke Lippe: Im Kern muss uns alle bekümmern, dass Gott kaum noch eine Rolle spielt in unserem Welt- und Selbstverstehen. Ich sage nicht: es muss uns bekümmern, dass die Kirche Relevanz verliert. Das mag sein, das hat mit Vielem zu tun, auch mit eigener Schuld, aber es ist eben eher Ausdruck als Ursache jener Gottesvergessenheit. Aber mit dem Gottgedanken geht auch ein Teil der Seelenkräfte verloren, es reduziert sich unser Selbstbild auf den „Aktionär“, den aktiven, handlungsbesessenen Menschen, der alles macht und kann und sich nur anstrengen muss, um Probleme zu lösen. Gott geht verloren und damit auch eine Dimension der Seele, die annehmen und hinnehmen kann. „Gott und die Seele sind zuhauf“, sagt Luther, sie bilden einem Haufen. Und das heißt doch umgekehrt, mit Gott geht auch ein Stück Seele verloren. Unsere Welt ist dann zur ewigen Machbarkeit verdonnert, wir sind eingezwängt im Streckbrett des Aktivismus, wir sehen nur noch, was wir selbst verantworten und gestalten und verändern müssen, wir können nicht mehr aufhören, nicht mehr innehalten, nicht mehr hinnehmen und stille werden. Mit Gottes Verstummen gerät die resiliente, die widerstandsfähige Seele in Gefahr, das tapfere Herz, das auch etwas ertragen kann im Sinne von Tragen und Mit-Tragen. Und ich glaube, dass diese Gottesvergessenheit auch den allersäkularsten Menschen beunruhigen und bekümmern müsste, denn wir alle spüren, wir können keineswegs alle gegenwärtigen Zumutungen und Herausforderungen wegmanagen, allen Kummer wegkaufen, alle Krisen wegbezahlen.

IV.

Natürlich: es gibt unendliche viele berechtigte Forderungen von allen Seiten, Forderungen, jede einzelne legitim und verständlich. Und doch führen alle Forderungen, Erwartungen und Eingaben insgesamt zu einer Überforderung, nicht nur finanziell, sondern auch mental für die Seele. Denn jede weitere Maßnahme bringt uns noch weiter hinein diesen Dauerhandlungszwang, wir korrigieren die Korrekturen der letzten Korrekturen unser vorletzten Korrektur im Korrekturmodus usw. Wir leben in einer Welt, die bei jedem Problem fragt: was muss jetzt dagegen gemacht, bezahlt, umorganisiert werden? Wie kann diese oder jene Zumutung wegmacht werden? Jeder Vorschlag führt aber zu noch höherer Komplexität, zu immer größeren Irrgarten der Entscheidungswege, zu einer Unübersichtlichkeit, die gerade auch die Engagierten und Wohlmeinenden lähmt, sie enttäuscht und entmutigt, um nicht zu sagen: verzweifeln lässt. Dass es dann Rattenfänger mit den einfachen Antworten und Fake-News leichter haben, liegt auf der Hand. Doch hier gilt die schlichte Regel: „Bei komplexen Problemen sind einfache Antworten immer falsch!“ Aber komplexe Antworten auf komplexe Probleme führen auch nur zu noch komplexeren Schritten. Die Mühen der Ebenen, die Langsamkeit der Entscheidungen, die Mittelmäßigkeit von Kompromisse, – all dies hinterlässt einen dennoch traurig und enttäuscht zurück. Ist es eine Art Verhängnis unserer Spätgesellschaft, eine Art Erbsünde der ausdifferenzierten Welt, dass sie ihre schwierigen Probleme nur mit weiterer Komplexität zu begrenzen versuchen kann? 

V.

Ein Beispiel: Niemand möchte eine Öko-Diktatur, wir wollen demokratisch handeln und Menschenrechte achten, also die Menschen überzeugen, sie nicht rumkommandieren. Aber genau dieses Grundbekenntnis zu demokratischen Entscheidungswegen führt dazu, dass wir zu langsam und zu zögerlich vorankommen mit dem Klimaschutz, weil wir viel zu viele berechtigte Interessen und legitime Ängste zu berücksichtigen haben. Auf den Punkt gebracht: wir nehmen hin, dass fremde Existenzen bedroht, ferne Länder untergehen und gemeinsame Lebensgrundlage vernichtet werden. Das ist ein Verhängnis.

Hilft dagegen der Gottesgedanke? Ja,  und zwar dreifach:

Einerseits dadurch, dass Gott als Schöpfer der Welt uns Zeit genug einräumt, um auch auf diesem umständlicheren, komplexeren Wegen zu guten Lösungen zu kommen.

Sodann dadurch, dass uns Gott der Versöhner vielleicht demütiger, rücksichtsvoller, gnädiger und weniger fordernd und erwartend macht gegenüber jenen, die Verantwortung tragen und entscheiden müssen.

Und zuletzt dadurch, dass Gott der Erlöser all unsere Angst und Mutlosigkeit in seine Obhut nimmt und beides nicht über Gebühr wachsen lässt.

Mit dem dreieinigen Gott kann man solch einen Volkstrauertag auch gut bestehen, damals schon und heute auch. Gott sei Dank und Amen.

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