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Ansprache zum Jahreswechsel · 31. Dezember 2015 · Annette Simon

Posted on Jan 10, 2016 in Predigten

Liebe Gemeinde,


ein Jahr geht zu Ende und es liegt in unserer Natur, ein solches Ende zu begehen und damit dem Ablauf der Ereignisse und unserem Leben einen Sinn zuzuordnen. Für diese Andacht zum Nachdenken angeregt, kann es nicht ausbleiben, daß Erinnerungen aufsteigen und Gedanken zu einer Bilanz.


Wenn ich versuche, dieses Jahr in die bisherigen Jahre meines über 60jährigen Lebens einzuordnen, dann scheint es mir eines von den Jahren zu sein, an dessen Anfang ich weder ahnte geschweige denn wußte, wie es enden würde. Ich meine jetzt nicht die Jahre, in denen sehr persönliche Ereignisse dem Leben eine andere Wendung geben:
eine neue Liebe, die Ankunft eines neuen Menschen oder auch der Verlust eines Menschen – durch Trennung oder Tod. Auch eine besondere Reise oder ein Umzug können ein Leben verändern. Ich meine hier aber jene Jahre, in denen die äußeren Ereignisse so prägend in das persönliche Leben eingreifen, daß ein Abgrenzen oder Entziehen kaum möglich ist bzw. auch nicht gewünscht wird.


Wenn ich solche Jahre für mein Leben benennen sollte, sind es die Jahre 1968, 1976, natürlich 1989 und nun dieses Jahr. Lassen Sie mich Ihnen etwas von diesen Jahren erzählen. Zum Anfang des Jahres 1968 wurde ich 16 Jahre alt, war also in der Nachpubertät und fieberte auch den gesellschaftlichen Veränderungen entgegen, die in Prag schon begonnen hatten. Nun endlich würde sich der Sozialismus seinem Ideal einer gerechten und humanen Gesellschaft nähern. Gierig verfolgte ich die Nachrichten aus Prag und als im April 1968 über die sozialistische Verfassung der DDR abgestimmt wurde, in der die DDR als Staat festgeschrieben wurde, verfertigte eine Gruppe Schüler unserer Schule eine
Wandzeitung, die sich besonders mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung befaßte. Wir brachten Zitate von Dubcek, Biermann und Ernst Fischer an die Wand. Danach begannen von mir niemals geahnte Strafprozeduren für die Beteiligten, die für alle einen Einschnitt in ihrem Leben darstellten.


Im Sommer 1968 fuhr ich zu einer befreundeten Familie nach Prag. Franzi Faktorova, die, auch noch ganz ungeahnt, meine zukünftige Schwiegermutter werden sollte, war Redakteurin einer bekannten tschechischen Zeitung, die im Zentrum der Änderungsprozesse stand. Ich erlebte hautnah das Erblühen und Erwachen einer Gesellschaft mit mehr Freiraum. Beglückt fuhr ich in die DDR zurück, in der ich ähnliche Veränderungen erwartete. Der Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSSR war dann ein Schock, der mein weiteres Leben prägte. Ich erlebte zum ersten Mal ganz bewußt und hautnah, daß die Machthabenden meines Landes bereit waren, wieder von deutschem Boden Gewalt ausgehen zu lassen – sogar in ein sozialistisches Bruderland einzumarschieren. Und ich begriff, daß ich in einem Land lebte, in dem die Staatsmacht auch mit Gewalt gegen Andersdenkende vorgeht und den Eingriff in persönlichste Belange nicht scheut.

Von heute aus kann ich klar sagen, daß 1968 das Jahr war, in dem mir die DDR als Heimat verloren ging und ich klar zu unterscheiden begann, wer auf der Seite der Macht und wer auf der Seite des wenn auch noch so kleinen Widerstandes stand.


Das Jahr 1976 machte diese Fronten noch klarer. Mit der Ausweisung von Wolf Biermann wurde demonstriert, wie man auch künftig mit Opposition umzugehen gedachte. Unbekannte verfolgen und wenn möglich ins Gefängnis bringen, bekannte Oppositionelle in den Westen verfrachten. Viele entschlossen sich zur Ausreise und seitdem stand auch für mich die Frage gehen oder bleiben immer wieder scharf im Raum.


Endgültig gehen wollten wir zum Anfang des Jahres 1989. Spätestens ab 1982 war die bleierne Decke über den sich nicht ändernden Verhältnisse fast alltäglich spürbar – auch für unsere Kinder sah ich wenig Perspektiven. So traf ich im Februar 89 Hans Misselwitz auf der Straße und erzählte ihm von unseren Plänen die DDR zu verlassen.
„Ach, Annette, wartet doch wenigstens noch den Herbst ab – das wird ein heißer Herbst!“ sagte er unvergeßlich zu mir. Ich glaubte ihm nicht, aber wir hätten auch sowieso nicht genug Mut gehabt, die DDR zu verlassen und uns im Westen eine neue Existenz aufzubauen – und etwas Veränderungswind war ja dann auch langsam zu spüren.


Die etwas Älteren unter Ihnen werden alle Erinnerungen an den Herbst 89 haben, weil diese Zeit hier jede und jeden in Berlin mehr in Ost, aber auch in West durchgeschüttelt hat, wenn vielleicht auch auf sehr unterschiedliche Weise.


Wenn ich mir die inneren Bewegungen jener hier nochmals aufgerufenen Jahre vergegenwärtige, so war das Jahr 1968 von Gefühlen wie Desillusionierung, Wut und Ohnmacht geprägt, die sich im Jahr 1976 eher noch verstärkten. 1989 war das Jahr, indem genau diese Gefühle sich in Selbstermächtigung, Veränderungsbereitschaft und neue Hoffnung verwandelten. Es entstand das Gefühl, mit eigenem Tun doch etwas bewirken zu können und dabei auch mit anderen verbunden zu sein.


Sehr schnell kam es dann 1990 zur deutschen Einheit. Dieses Jahr wurde nun die 25jährige Wiederkehr des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik begangen. Schon im Wort „Beitritt“ liegt auch meine Enttäuschung. Im Prozeß der schnellen Vereinigung blieb kaum Zeit die gerade zurückeroberte Autonomie zu genießen, die gezeigte Selbstbehauptung und den Sieg über das alte System auszukosten. Mit großer Geschwindigkeit ging es darum, sich in neuen Strukturen zurechtzufinden und sich in sie einzupassen. Das war auch mit Neugier und Genuß verbunden, mit dem Entdecken neuer Räume und der Möglichkeit anderer Lebensentwürfe – aber manchmal war es auch ganz schön viel auf einmal und mit Gefühlen von Überrolltwerden und Fremdheit verknüpft. Ich weiß noch, wie nach
der Währungsunion sehr schnell riesige Reklametafeln hier an der damals noch stehenden Kaufhalle gegenüber der Kirche auftauchten und in der Kaufhalle quasi über Nacht die neuen Westprodukte zu haben waren und wirklich kein einziges Ostprodukt mehr. Manwohnte mit denselben Menschen in derselben Wohnung, aber das Land um einen herum wurde sichtbar ein anderes.


Das ist auch eine assoziative Überleitung zu diesem Jahr. Im Januar 2015 ahnten wir nicht, daß das radikal Böse, das immer schon da war und ist, uns so nah rücken würde. Die zweifachen Anschläge von Paris und der Krieg in Syrien sind nicht zu verleugnen. Die europäische Verwundbarkeit liegt offen zutage. Und wir ahnten im Januar nicht, welche neuen Veränderungen auf uns zukommen würden – jetzt sind 1 Mio Flüchtlinge in Deutschland angekommen, allein in Berlin sind es 78 000, die nicht alle in Berlin bleiben werden. Dafür hat sich im Straßenbild noch sehr wenig verändert – man sieht die Flüchtlinge kaum, wenn man nicht konkret mit ihnen zu tun hat. Und da sind inzwischen viele Menschen um mich herum sehr mit den Ankommenden beschäftigt. Eine Freundin begleitet eine Syrerin zu den anstehenden Terminen bei den Ämtern, geht mit ihr spazieren und ins Kino. Meine psychotherapeutischen Berufskollegen
engagieren sich bei der medizinischen Versorgung und bei der Anbahnung von Kommunikation z.B. im Flughafen Tempelhof. Aber wir bieten auch Hilfe für die Helfer an, die manchmal überwältigt werden von Leid und Ohnmacht. Mein Schwager steht früh am Hamburger Hauptbahnhof und gibt Schrippen und Getränke für die Ankommenden aus. Diese Gemeinde beherbergt am Wochenende Flüchtlinge.


In den Jahren 1989 bis 1993 kamen ungefähr 4 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns: sogenannte Russlanddeutsche und Menschen mit jüdischen Wurzeln: Berlin hat ca 170 000 von ihnen aufgenommen – mehr als das Doppelte der jetzigen Zahl. Ich kann mich nicht erinnern, daß es damals ähnlich spektakuläre Bilder von Warteschlangen am LAGESO oder dauernde sehr polarisierende Diskussionen darüber gegeben hätte, ob wir es schaffen, diese Menschen aufzunehmen. Sie sind beinahe lautlos bei uns hineingekommen und sind nun schon lange einfach da und ihre Kinder sind jetzt schon erwachsen. Für manche war die Integration sehr schwer. Andere schreiben jetzt unsere Kultur bereichernde Literatur wie Wladimir Kaminer, Olga Grjasnowa (Der Russe ist einer der Birken liebt), Nellja Veremej (Berlin liegt im Osten) und Katja Petrowskaja (Vielleicht Esther). Vor kurzem hat mich ein Taxifahrer
gefahren, der vor 20 Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen war und nun auch gleich eine Diskussion über die jetzigen Flüchtlinge begann: „Mit denen werdet Ihr es nicht so leicht haben wie mit uns – die sind nicht so willig sich anzupassen. Die sind viel brutaler und wilder und haben einen anderen Glauben.“


Damit hatte er auch gleich fast alle ablehnenden Stereotype angesprochen, die auch in uns sind. Ja, die jetzt gekommen sind, sind wahrscheinlich sehr anders als wir – sie sind wirklich fremd. Aber wie fremd mögen wir Ihnen erscheinen? Ich mußte in den letzten Tagenoft an einige Zeilen von Rilke aus den Duineser Elegien denken:


„Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen,
kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben…
das, was man war in unendlich ängstlichen Händen,
nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen
wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.
Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam,
alles, was sich bezog, so lose im Raume
flattern zu sehen.“


Es ist sehr seltsam, seine Heimat nicht mehr zu haben. Wie mag es einer Frau gehen, die in einem der 12-Mann-Zelte in den Hangars des Tempelhofer Flughafens schläft? Wie mögen die geschäftigen Berliner auf den Straßen und in der U-Bahn auf sie wirken? Auch sehr sehr fremd.


Wenn wir zusammen in diesem Deutschland leben wollen, werden wir uns etwas bekannt machen müssen und akzeptieren, daß etwas auch fremd bleiben wird. Wie wir einander aushalten werden, ist noch offen.


Im Gedicht von Rilke sind übrigens Engel gemeint, die die Erde nicht mehr bewohnen. Engel sind wir alle nicht. Ein paar Zeilen weiter heißt es bei Rilke. „Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.“ So ist es wohl.


Liebe Gemeinde,
ich habe mein Nachdenken hier mit dem Nachdenken über das Vergehen der Jahre begonnen und wie einige Jahre in unserem Leben durch das Einschlagen äußerer Ereignisse besonders prägend sind, ihm einen anderen Impuls geben. Ob das vergangene Jahr auch zu diesen Jahren gehören wird, werden wir erst am Ende unseres Lebens wissen. Mein Gefühl sagt mir, daß es ein solches Jahr gewesen sein könnte und daß es die folgenden beeinflussen wird. Hoffen wir, daß es in einem guten Sinn prägend sein wird.


Bei einem anonym gebliebenen Dichter fand ich folgende Zeilen:


Beeile dich damit Zeugnis abzulegen
nicht nur deine Kinder – auch deine um wenige Jahre älteren
Zeitgenossen
schwärmen für ganz andere Dinge
nennen andere Jahreszahlen
lächeln milde wenn dir andere als ihre Tränen kommen.


Ein anderer Dichter meinte ganz lapidar:
ich glaube denen
die gerade angefangen haben zu sprechen