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Predigt · 16. Sonntag nach Trinitatis · 15. September 2013 · Pfarrerin Ruth Misselwitz

Posted on Sep 20, 2013 in Predigten

Lukas 7, 11 – 16

Liebe Schwestern und Brüder, 1993 habe ich einen Studienurlaub
beantragt und war ich drei Monate in Südafrika.


Während dieser Zeit besuchte ich einen deutschen Pfarrer,
der seit vielen Jahren in einer schwarzen lutherischen Gemeinde
mitten auf dem Land, fernab von jeglicher Zivilisation, in einem
kleinen Dorf arbeitete.


Er bat mich, am Sonntag zu predigen,
er würde die Predigt in die Eingeborenensprache übersetzen.
Der Predigttext war diese Geschichte, die wir gerade hörten.
Ich hatte so meine Schwierigkeiten mit diesem Wunder,
hatte ich doch niemals eine Totenauferweckung in meinem Leben
erlebt und wusste auch von niemandem, der so etwas gesehen hatte.


Nun war ich gewohnt, diese Wunder nicht wörtlich zu nehmen,
sondern alegorisch, also symbolisch zu deuten wie z.B. ein
Neuanfang, nach einem schweren und aussichtslosen Schicksal,
oder eine wunderbare Genesung nach einer schweren Krankheit
udglm.


Es waren gerade die ersten Jahre nach dem Mauerfall
und wir alle waren noch tief bewegt von diesem Wunder,
mit dem wir überhaupt nicht gerechnet hatten.


So deutete ich in meiner Predigt auch diese Auferstehungsgeschichte
als eine Geschichte des Neuanfangs nach einem langen und schweren
Weg.
Ich erzählte von der DDR, den Hoffnungen und Enttäuschungen, die
wir erlebten und der wunderbaren Maueröffnung.
Die Gemeindeglieder hörten mir freundlich und höflich zu
und am Ausgang verabschiedeten sie sich sehr herzlich von mir.


Der Pfarrer aber sagte danach zu mir: So richtig haben sie nicht
verstanden, warum du nicht über eine richtige Totenauferweckung
gesprochen hast.
Das haben sie doch selbst schon in diesem Dorf erlebt.
Ich war völlig überrascht.


Ja, sagte er, hier in Afrika geschehen die seltsamsten Dinge, die auch
ich in Deutschland niemals für möglich gehalten hätte.


Der darauffolgende Abend wurde sehr lang, weil er mir eine seltsame
Geschichte nach der anderen aus seinem Leben in Afrika erzählte.


Und immer wenn ich diese Geschichte aus dem Lukasevangelium
höre, dann muss ich an Afrika denken
und an die Geschichten, die ich dort hörte.


Liebe Schwestern und Brüder, wir modernen zivilisierten Menschen
aus dem aufgeklärten Europa glauben nicht an Wunder und deshalb
sehen wir sie auch nicht.


Es ist nun in der Tat so, dass ich noch keinen Toten habe auferstehen
sehen.


Und ich kann mir gut vorstellen, wenn eine Mutter, die gerade ihren
Sohn verloren hat, diese Geschichte hört,
voller Schmerz und Trauer sich aufbäumt
und Gott anklagt, warum Jesus denn nicht auch mit ihr solch ein
Mitleid hatte, wie mit dieser Witwe in Nain.


Warum hat diese Mutter ihr Kind wieder bekommen und so viele unzählige Mütter auf dieser Welt verlieren ihre Kinder
durch Krankheit, Unterernährung, Krieg oder Gewalt?


Warum schreibt der Evangelist Lukas diese Geschichte auf,
die ihm von Jesus erzählt wurde
angesichts der vielen toten und kranken Menschen, die sicher auch er
schon verloren hat?


Was soll uns denn heute hier in dieser Kirche eine Geschichte von
einer Totenauferweckung sagen,
angesichts der Trauer über einen verlorenen lieben Menschen,
die den einen oder anderen unter uns schmerzlich bewegt?


Was mich an dieser Geschichte besonders bewegt
ist das Mitleid, das Jesus mit dieser Frau hat.


Es war wirklich ein großes Elend, das diese Frau getroffen hat.
Ihren Mann hat sie schon verloren und dann ist auch noch ihr einziger
Sohn gestorben.
Ein größeres Leid kann man sich kaum vorstellen.


Das schlimmste Schicksal, das einen treffen kann, ist der Tod eines
Kindes.


Wenn ein Mensch im hohen Alter lebenssatt und reich an Jahren und
an Nachkommen
gesegnet aus diesem Leben scheidet,
dann ist das allemal ein Schmerz, aber bei alledem kann man auch
dankbar auf das Geschenk dieses Lebens zurückschauen und ein
Trost bleibt darüber erhalten.


Bei einem Kind ist das etwas anderes.
Das ist ein zu tiefer Schmerz, ein zu großer Verlust,
eine zu große Verzweiflung über das noch nicht gereifte Leben,
die unerfüllten Sehnsüchte, die Hoffnungen, die nun alle zerschlagen
sind.


Eltern, die ein Kind verloren haben, machen oft in ihrer Umgebung
die Erfahrung, dass sie über ihren Schmerz nicht reden können,
weil die anderen nicht verstehen,
dass dieser Schmerz einfach nicht nachlassen will,
auch wenn der Verlust schon Jahre zurückliegt.


Dann kommen wir mit solchen Sprüchen wie:
„Die Zeit heilt alle Wunden,
oder „Das Leben geht weiter“.
Oder „Man muss doch auch wieder nach vorne schauen können“


Doch das Leben dieses Kindes geht eben nicht weiter
und das eigene Leben geht eben so auch nicht weiter.


„Und als Jesus sie sah, jammerte sie ihn und er sprach zu ihr: Weine
nicht! und trat hinzu und berührte den Sarg.“


Jesus geht dieser Frau nicht aus dem Weg,
ihm ist das Leid dieser Frau nicht zu peinlich oder zu unbequem.
Er geht auf diesen Beerdigungszug zu, der sich gerade aus der Stadt
hinaus bewegt hin zum Todesacker.


Er geht auf die Frau zu und berührt den Sarg.
Er stellt sich dem Todesmarsch in den Weg und stoppt ihn.


Liebe Schwestern und Brüder,
als wir in der letzten Woche auf unserer Familienrüste in Schönberg
waren, sahen wir dort eine Gedenktafel über den Todesmarsch von
KZ-Häftlingen, der sich in den letzten Wochen und Monaten des 2. Weltkrieges durch unsere Städte und Dörfer zog.


Hätten sich damals auch Menschen wie Jesus diesem Todesmarsch
von KZ-Häftlingen,entgegengestellt,
hätten vielleicht auch Menschenleben gerettet werden können.


Und wenn wir heute das Leid der Flüchtlinge und Asylsuchenden aus
den kriegs- und krisengeschüttelten Ländern dieser Welt an uns
heranlassen, dann können wir auch Menschenleben retten.


Liebe Schwestern und Brüder,
diese Geschichte ist eine Geschichte der Lebenden,
nicht der Toten.


Jesus ist nicht erschüttert über den Tod des Jungen,
sondern über das Leid der Mutter.


Das Leid dieser Frau geht Jesus so zu Herzen, dass er selbst den toten
Jungen wieder auferweckt.


Das Leben, das dieser Frau dadurch wieder geschenkt wurde, ist das
Ziel Jesu Handelns.
Er hat sie vor der Verzweiflung, vor dem Absturz in die Dunkelheit
bewahrt.


Liebe Schwestern und Brüder, diese Geschichte ist eine Geschichte
der Barmherzigkeit und des Mitleids.
Und es ist die Geschichte der Überwindung von Trauer und
Verzweiflung.
Ich glaube, dass so mancher unter uns auch solche Geschichten aus
dem eigenen Leben erzählen kann.


Da gab es Situationen, in denen es dunkel und leer war
doch da gab es eine Hand, ein Wort, eine Geste, die wieder neues
Leben möglich machte.


Die Toten wissen wir geborgen bei Gott,
unser Leben gilt es zu bestehen
mit all den Verwundungen und Verlusten, die wir zu beklagen haben.


und dazu will uns Christus beistehen, denn kein Schmerz ist ihm zu
schwer, keine Situation ist für ihn aussichtslos.


Und wenn wir uns in den Dienst nehmen lassen durch ihn,
dann werden wir die wunderbare Erfahrung machen, dass auch wir
imstande sind, Leben zu retten und zu heilen.
Amen.